Die Werke von Ilja Ehrenburg, Michail Bulgakow, Juri Tynjanow, Juri Trifonow, Wladimir Tendrjakow, Bulat Okudshawa, Tschingis Aitmatow, Daniil Granin und vielen anderen Schriftstellern aus der Sowjetunion wurden dem deutschsprachigen Publikum, insbesondere dem in der DDR, vor allem dank des unermüdlichen Wirkens eines Mannes zugänglich: Ralf Schröder (1927 bis 2001).
Wer mit wachem Auge in der DDR gelebt hatte, konnte ahnen, mit welch ungeheuren Schwierigkeiten der Herausgeber und Nachwortschreiber Schröder zu kämpfen hatte, seine Absicht in die Tat umzusetzen, die „andere“ Sowjetliteratur in der DDR zu veröffentlichen – nämlich die nicht systemkonforme, aber nie antisowjetische, sowohl die „Literatur aus der Tiefe“ (Tynjanow) als auch die seit dem Umbruch (Perelom) von 1929 „vergessene“, zu der die frühen Werke von Ehrenburg ebenso zählen wie die späten von Maxim Gorki. Aus seinen Fragment gebliebenen Erinnerungen können Interessierte sehr viel genauer erfahren, welch langen Atem er für sein Vorhaben benötigte, wie viel Energie, Fleiß und Ideenreichtum er darauf verwendete, aber auch mit welchen Tricks und Schlichen er dabei vorging, vorgehen musste.
Die Katastroika
Als der studierte Slawist und Historiker 1966 seine Herausgebertätigkeit begann, war er kein unbeschriebenes Blatt. Er hatte bis 1957 an der Leipziger Universität gelehrt und dann sieben Jahre als politischer Häftling in Bautzen II zugebracht, war „auf Bewährung“ entlassen worden und mit der „Zusicherung“, nie wieder an einer Hochschule lehren oder in einem Forschungsinstitut arbeiten zu dürfen. Die Härte der Strafe wie auch die Ablehnung, die ihm nach seiner Entlassung von der „etablierten“ Slawistik in der DDR nahezu ausnahmslos entgegengebracht wurde, resultierte vor allem daraus, dass Schröder Trotzkist war und es insgeheim auch immer blieb. Ihm war es „selbstverständlich“ zu DDR-Zeiten verboten, den Namen Trotzki auch nur zu erwähnen, und es war eine ungeheure Gratwanderung, die er über 20 Jahre hinweg zu absolvieren hatte, zum Nutzen wie auch zum Vergnügen seiner vielen Leserinnen und Leser.
Sehr aufschlussreich sind Schröders Reminiszenzen zum (von ihm nie so genannten) Ende der „anderen“ Sowjetliteratur. Seine wohl besten Freunde, Trifonow und Tendrjakow, waren schon Anfang der achtziger Jahre verstorben, also vor Beginn der von ihm (in Anlehnung an Grigori Sinowjew) nur Katastroika genannten Perestroika. Okudshawa hatte seit den siebziger Jahren vor, sein „wichtigstes Buch“ zu schreiben, „seine Buddenbrooks“ (der Vater und dessen drei Brüder waren sämtlich 1937 erschossen worden, der Vater Anhänger Stalins, von den Brüdern der eine Anhänger Trotzkis, der andere Sozialrevolutionär und der dritte Menschewik), und es gelang ihm nicht, weil er nicht mehr den „Widerschein des Feuers“ sah, sondern nur noch Asche.
Granin erklärte Schröder 1990, er sei nicht mehr „Soz-Realist“, sondern „Kap-Realist“. Und Aitmatow antwortete auf die Frage, ob er jetzt schreiben könne – wie Schröder referiert: „Das, was jetzt passiert ...‚ ,ist eine seelische Katastrophe‘. Das ist wie ein Uragan, ein Wirbelsturm. Ich kam nach Luxemburg als Botschafter, weil ich dachte, hier kann ich ruhig das schreiben, was ich vorbereitet habe. Aber dieser Wirbelsturm, dieser Uragan, der hat die Blätter vertrieben. Wie ein Sturm, ein Orkan, durch einen Wald geht. Die einen Bäume werden umgestürzt, andere entwurzelt, Blätter, Zweige fliegen umher. So auch meine früheren Manuskripte. ... Ich kann nicht so schreiben, wie ich gedacht habe. Der Leser hat sich verändert. Wenn ich früher selbst nur einen kleinen Artikel geschrieben habe, nicht einmal einen Roman oder eine ‚Povest‘ (Erzählung), hatte ich sofort einen Widerhall. Ich wusste, der Leser versteht mich, wir sind im Gespräch. Und dieses Gespräch ist abgebrochen. Ich fühle mich ... ‚meiner Epoche sehr fern‘. ‚Ich bin fern von Moskau‘, sagte er sogar. Sehr, sehr fern.“ (Letzteres eine Anspielung auf Wassili Ashajews Fern von Moskau.)
Zum Widerspruch reizend
Der Herausgeber, Schröders Sohn, hat die Erinnerungen in mühevoller Kleinarbeit mit einer Vielzahl von Quellenbelegen, biografischen Erläuterungen und Querverweisen auf andere Textteile versehen; im Vorwort hat er das Nötige zur Stasi-Verpflichtung seines Vaters gesagt. Dessen Aufzeichnungen auf dem Bildschirm (eine Anspielung auf Bulgakows Aufzeichnungen auf Manschetten) hat er, soweit sie erhalten geblieben sind, teils als zweiten Teil in das Buch aufgenommen, teils, als Einschübe klar erkennbar, in die Erinnerungen eingebaut. Diese Aufzeichnungen, häufig zur aktuellen Lage hingeworfener Klartext, hätte der Rezensent gern mit dem Verfasser debattiert. Aber da Schröder nicht mehr antworten kann, sei einfach auf diese hochspannenden und sämtlichen mainstreams zuwiderlaufenden Passagen verwiesen. Sie sind in ihrer pointierten Einseitigkeit ein bedeutendes, zum Nachdenken aufforderndes wie zum Widerspruch reizendes Zeitdokument.
Thomas Kuczynski, geb. 1944, ist ständiger Kolumnist von lunapark21 zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie
Unaufhörlicher Anfang. Vorboten eines RomansRalf Schröder Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Michael Leetz, Edition Schwarzdruck, Gransee 2011, 624 S., 35
Kommentare 5
Halb weinend, halb lachend oder lächelnd, habe ich diesen Beitrag gelesen.
Ich habe mit Ralf Schröder mal einen Saufabend verbracht, mit ziemlichen Folgen, aber unvergesslich. Er saß damals mit Kollegen im "Presseclub", wo ich auch recht oft herumhockte. Seine Einflugschneise war eigentlich mehr "Die Möwe", aber vielleicht hatten die gerade geschlossen, was weiß ich.
Wir haben uns da - stundenlang - über sowjetische Literatur unterhalten, aber nicht nur. Er hatte einen in der Krone, ich war auch nicht ganz nüchtern.
Hin und wieder trumpfte er mal auf und zog gegen "die da alle" vom Leder. Er könne jetzt alles sagen, er habe den Knast schon hinter sich. Wie das zusammenhing, hat er angedeutet, aber einiges habe ich mir nach der Wende noch zusammengereimt. Mich hat nicht gewundert, dass er sofort vom Knast erzählt hat, das machen fast alle, die so ein Erlebnis hinter sich haben.
Das war jedenfalls ein Abend, der bis in den Morgen ging und den ich nicht vergessen habe. Das gibts ja manchmal - dieses reden und reden und...
Es blieb danach bei einigen kurzen Kontakten und Gesprächen. Und es ist lange her.
Nach der Wende rief er mich mal an. Ich war nicht zu Hause, aber mein Mann richtete mir Grüße aus. Dass ihn Journalisten bedrängten hatte ich auch erfahren, aber er wollte mit niemandem sprechen. Auch das wird mir jetzt erst klarer. Dass er gestorben ist, habe ich von fern wahrgenommen und war traurig. Seinen neuen Text kenne ich noch nicht. Bisher habe ich nur seine bei Reclam erschienenen Essay "Roman der Seele" gelesen.
Ein ganz außergewöhnlicher, sehr gespaltener Mensch, einer der zur Selbstzerstörung neigte, verstärkt durch seine Geschichte.
Ach, es ist manchmal verrückt...das Leben.
Ich kann mit keinerlei Anekdoten aufwarten. Ich kann nur sagen, dass ich nach einer "Atempause" von etwas mehr als 20 Jahren zur russischen und sowjetischen Literatur gerade wieder zurückfinde. Ich habe sogar Gorki als teils großartigen Autor entdeckt. Dabei hatte es meine ostdeutsche Schule doch fast geschafft, bei mir - Pawlow'schem Hund - schon beim Namen Gorki zuverlässig Breichzeiz in Gang zu setzen. Gottseidank, das ist vrobei. Und wenn gar ein Buch, das man im Antiquariat aufstöbert, von Ralf Schröder herausgegeben und von Thomas Reschke übersetzt ist (Bulgakow, Schukschin...) kann man einfach nichts falsch machen.
Ich lese dieser Tage mal wieder "Wie der Stahl gehärtet wurde", das der Germanist Hans Mayer, gänzlich der Beweihräucherung unverdächtig, ein "nobles Erinnerungswerk" genannt hat.
Wenn man "begreifen" will, woher sich manche Heldenlegenden der Russen speisen, dann ist dieses Buch absolut einleuchtend. Es ist u.a. auch empörend - deutlich wird, dass ein Revolutionär eine Art von kriegerischem Priester ist, der jeder Versuchung widersteht und stattdessen lieber die Eisenbahnlinie nach Schepetowka baut, damit die Revolution vorankommt.
Gorki - da fällt mir wieder was Triviales ein. Es gibt diesen sehr unglücklichen Schnulzensänger Roy Black, d.h. es gab ihn mal.
Und der erzählte vor Jahr und Tag in einer Talkshow, dass er Gorkis "Klim Samgin" liest . Fand ich sofort bemerkenswert. Ein westdeutscher Schlagersänger liest Klim Samgin, die Welt ist noch nicht verloren. Nebenher: ich habe Klim Samgin nicht gelesen, aber Gorkis "italienische Märchen".
Und dann noch: Wassili Schukschins "Kalina Krasnaja" - eine Offenbarung über die sowjetische Gesellschaft.
Fiel mir nebenher noch so ein.
Hey Micha - D A S also hast Du die ganzen Jahre über getrieben. Hochinteressant. Jaja, die Väter ... lassen einen nicht los.
Seltsam, über so eine Arbeit wieder auf Dich zu stossen. Freu mich auf Dein Buch. Mal sehen, obs wieder so eine Offenbarung wird wie damals, als Du die "Moskau News" in unser komisches Internat in Sondershausen geschleppt hast. Schade, kam kein Kontakt mehr zustande seit Mitte der 90iger. Hab wohl was falsch gemacht. Halt die Ohrn steif. Sebastian
Über zwei Jahre später gefunden. Das ist sehr interessant, haben Sie in Ihrem blog mehr über Ralf Schröder geschrieben? Viele, wie ich, werden nie von ihm gehört haben? Soweit ich grade las, wird er aus neueren Bulgakow-Ausgaben, die er mit Vor- oder Nachwörtern versah, inzwischen gestrichen. (Ralf Schröder blieb ja trotz langer Zeit im Gefängnis und allem Kommunist, ganz so frei, wie die Literatur sich beschreibt, ist sie wirklich nicht. Man könnte ja 2 Nachwörter in Bücher setzen, aber warum Ralf Schröder wegstreichen?)
Ich kam aus Ekel vor der derb einseitigen Medienpropaganda seit November 2013 zur Ukraine, dem Verschweigen von Morden dazu, mir mehr Romane/Erzählungen zu kaufen, als ich schon hatte. Vielleicht lernt man mehr als die immer schon feststehende Sicht a la Sabine Adler oder Herta Müller oder Werner Schulz und hunderter mehr, wenn man etwa Kawerin liest. "Das doppelte Porträt" handelt von zwei Wissenschaftlern rund zwischen 1948 und 1955. Einer profitierte von der Stalin-Diktatur, der andere mußte ins Lager. Kunstvoll erzählt Kawerin dazu die Geschichte einer Frau, deren Mann vom Karrieristen in den Selbstmord getrieben wurde, und es geht um viel mehr, sehr empfehlenswert, finde ich. Nach der Lektüre dachte ich, ein Kawerin fehlt heute vielleicht, jemand mit Zwischentönen.
Im derzeitigen schwarz-weiß ist es so widerlich und kriegerisch und selbstgerecht, es ist fast Zeitverschwendung, Zeitungen zu lesen. Wär es nicht viel besser, Leute wie Sie, die die teils in Deutschland recht unbekannte Literatur aus Russland kennen, würden etwa in blogs, in Cafés, wo immer, darüber erzählen.
Jedenfalls verspätet Flori und Ihnen herzlichen Dank, ich werde neben vielen Büchern auch hoffentlich bald den mir unbekannten Schukschin lesen, und will unbedingt das Buch von Ralf Schröder kaufen, sobald ich kann. Es gibt die website "unaufhörlicher Anfang" über Ralf Schröder, von seinem Sohn.