Wann beginnt die Krankheit? Wenn sie ausbricht? Oder wenn man sie benennt? Mitten im Kino überfällt den jungen Schweizer Autor Pavlos plötzlich die Erkenntnis, die er schon seit Wochen mit sich herumgeschleppt hatte. Als er Stephen Fry alias Peter Morton in Kenneth Branaghs englischem Erfolgsfilm Peters Friend den Freunden, die er auf seinem Landsitz zum Sylversterurlaub versammelt, plötzlich mitteilen hört: "Ich bin HIV-positiv" schlägt es Pavlos die gläserne Glocke vom Gesicht, unter der er keine Luft bekam. "DU hast AIDS", gesteht er sich zu Hause vor dem Spiegel ein. "Es sollte noch eine schwierige Zeit verstreichen, bis er endlich ich sagen konnte."
AIDS ist verdrängt. "Bareback"-Sex, ohne schützende Zwischenmembranen ist wieder in. Das Men
ieder in. Das Menetekel des Todes wird verlacht, verdrängt. Zu einem Zeitpunkt, wo auch die schwule Literatur sich mehr und mehr dem Mainstream zu verschreiben beginnt, statt coming-out-Dramen die midlife-crisis und die Mühen des Alltags der eingetragenen Lebenspartnerschaft zu schildern beginnt, will der 1964 im griechischen Egion geborene Autor, der heute in der Schweiz lebt, noch einmal das Epos des Leidens beschwören. Kokontis´ Text fiel genau vor einem Jahr beim Klagenfurter Literaturwettbewerb mit Pauken und Trompeten durch. Man kann jetzt besser als bei dem kurzen Ausschnitt, den er damals verlas, erkennen, worum es ihm geht. Der Schock der Erkenntnis gebiert ein neues Leben. Zum Tode.Der kranke Pavlos reist im Zug zu einer Autorenlesung. Normalität in der Gestalt eines älteren Ehepaars und Abweichung in der Gestalt des dürren Kranken spiegeln sich Auge in Auge. In einem plötzlich aufkommenden Sturm entgleist der Zug beinahe. Der Schock evoziert Erinnerungen. An die Mannwerdung in der schwulen Sauna in der Kreisstadt Olten. An die erste Sex-Reise nach London. Das gemeinsame Duschen in der Armee, bei dem sich "die Glieder um ihn herum regten". Und an die unerklärlichen Sehstörungen morgens beim Frühstück: Und das plötzliche Stolpern - Symptome, mit denen die Krankheit beginnt. Das Mosaik aus Erinnerungsfetzen in dem dahinrasenden Zug ist ein Sinnbild für die Reise des Lebens. Und steht für eine Biographie der Erschütterung. Die Spanne zwischen Leben und Tod, der Kampf ums Überleben, und der Schrecken als des Schönen Anfang sind das große Thema des jungen Autors. Damit es auch keinem entgeht, rückt er noch ein Cioran-Zitat von der "Wollust des Widerspruchs" ein. Doch beherrscht er diese explosive Gemengelage?Der scharfe mikroskopische Blick, mit dem sein Erzähler sich zu Beginn an den jungen Mann auf dem Bahnsteig heranzoomt, hat er schon auf Seite neunzehn aufgegeben für das verräterische Motto: "Unsere Sprache, in der sich ohne ein Objekt nichts ereignet, zwingt uns, das vermeintliche, von unsichtbaren Klippen verseuchte Kap zwischen Subjekt und Objekt mit Bildern und Metaphern zu umschiffen, damit Sätze daraus entstehen, wie der folgende. Der Schmerz ist unser wichtigster Freund, ein Teil unseres Bewusstseins, der uns warnt, die Meinung sagt, in die Pflicht nimmt von der ersten Sekunde bis zur letzten, damit wir uns nie vergessen und bei Bedarf erfahren, wo wir zu Hause sind." Kokontis hält sich nicht an die Bilder. Er setzt auf Metaphern. Nicht, dass man nicht hin und wieder etwas über den Schmerz des Kranken erführe, der auf 40 Kilo abmagert, im Spital seine Gedärme unter der Haut arbeiten sehen kann und den kein attraktiver Mann mehr ansehen will. Die Stärke dieses Autors ist der Wille zur ungeschützten Selbstentblößung. Das allein macht freilich noch keine Literatur. Kokontis schreibt nicht unbedingt wehleidig. Seinen abgeschlafften Hintern betrachtet der zwischen "Himmelhochjauchzend" und "Zutodebetrübt" zerrissene Held Pavlos ironisch als "leeren Rucksack". Doch Kokontis vermischt und erschlägt seinen eigenen und seiner Protagonisten unbändigen Mitteilungswillen mit überbordendem Kitsch. Die Liebesbegegnung am Strand in Griechenland mit seinem krebskranken Freund Reto verklärt er zum Liebestod-Symbol. Da öffnet sich vor seinem inneren Auge "das Buch seines Lebens, in dem eine magische Hand zu blättern begann und Pavlos Seele dazu erklingen ließ wie das Adagio aus Bruckners Achter". Das Salz in dieser rührseligen Suppe sind die Lebensweisheiten, die der mal gerührte, mal erschütterte, mal unendlich lebenskluge Erzähler immer noch gratis beigibt: "Überschwengliches Glück ist eine ach so pralle Frucht, die bei der leisesten Berührung wie das noli me tangere birst." Diese bildungsbürgernden Quellstoffe, die den schachtelsatzverseuchten Text zu einem unausgegorenen Teig aus Quas und Kitsch machen, wäre an sich schon kaum zu ertragen. Hier schreibt kein Meister der Assoziationen, flashbacks und cuts, wie die Aargauer Zeitung rühmte, sondern ein überforderter Trittbrettfahrer der Pseudoavantgarde.Vollends entgleisen lässt den Textzug, dass Kokontis die Krankheit nicht nehmen kann, wie sie ist. Sondern ihr unbedingt einen metaphysischen Sinn unterschieben muss. Kokontis lässt Pavlos die Wahrheit der Krankheit ertragen, "indem er sie als ein Fragment der Apokalypse erfährt, die sich im kleinen und besonderen über seinen Autor hergemacht hat und gerade hier und jetzt ein kleines, züchtigendes und ermahnendes Exempel für alle statuiert, im besten Fall als Akt der Gnade." Der Kranke unterwirft sich dem Gottesurteil, das die Krankheit als Schuld über die verdorbene Gemeinschaft verhängt.In ihrem Buch AIDS und seine Metaphern hat die amerikanische Kunstkritikerin Susan Sontag 1989 die Dämonisierung und das Freund-Feind-Denken kritisiert, das mit der ideologischen Massenmobilisierung unter dem martialischen Motto "Krieg gegen AIDS" in den achtziger Jahren einherging. Wie bei Krebs verschwindet hinter den Metaphern von Schuld, Schicksal und Strafe die ganz normale "Krankheit ohne Bedeutung". Vor dieser Mystifizierung von AIDS sind auch Schwule nicht gefeit. Man sagt es ja wirklich ungern. Aber Entgleisungen ist ein exemplarisches Beispiel für den schwulen Hang zur dramatischen Selbststilisierung und zur schwülstigen, verschleiernden Metaphorik. Pavlos ist natürlich mit dem psychischen Unterfutter der decadénce ausgestattet. Schon früh zielte der Mann auf die große Geste, imaginierte sich als Kamelienherr bei Schumanns Klavierquintett die Schwindsucht an den Hals. Kein Wunder, dass dem Todgeweihten bei soviel metaphorischem Überschuss der Zug, in dem er seine Reise beginnt, als "Stahlmonster" und das kleine weiße Mosaik unter dem Sand am griechischen Strand, auf das er mit Reto urplötzlich tritt, wie ein "Orakel des Todes" vorkommt. Doch keine Angst: Pavlos stirbt nicht an AIDS. Der Autor Kokontis hat ihn längst an einer Metaphernschlinge erhängt.Patrick Kokontis: Entgleisungen. Erzählung. Ammann-Verlag, Zürich 2001, 182 S., 29, 80 DM
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