Fragmente und Rollen

Rohstoffe Ein Sammelband zu Fragen des geistigen Überlebens in Zeiten des Neoliberalismus

Es gibt mehr Gründe, dieses Buch, das ein "großes Lesebuch zum Verstehen und zur strategischen Überwindung des Neoliberalismus" sein will, zur Lektüre zu empfehlen, als welche, um davon abzuraten. Der Grund: Die Autoren setzen tatsächlich eigene inhaltliche Akzente; in der Flut an Publikationen über das Wesen des Neoliberalismus wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Die Autorengruppe - Theologen und Psychoanalytiker - und ihr Ansatz ist für das klassisch-linke Publikum sicher etwas gewöhnungsbedürftig. Wer diese Fremdheit spürt, sich davon jedoch nicht vom Lesen abhalten lässt, der wird dafür belohnt.

Dieses materialreiche Werk - in Teilen gleicht es einer großangelegten Literaturstudie - zeichnet sich durch zweierlei aus: Es versucht, den Neoliberalismus mit einem ganzheitlichen Ansatz zu analysieren und ihm auch ein ganzheitliches Konzept entgegenzustellen. So werden psychisch-soziale Verwerfungen ebenso beachtet wie die wirtschaftlich-materiellen. Das Versprechen der Autoren: "Interdisziplinär werden aus ökonomischer, politologischer, psychologischer und theologischer Perspektive Traumatisierungserfahrungen der Verlierer, der pathologische Narzissmus der Gewinner und die Situation der Mittelklassen untersucht."

Das zweite Merkmal: Der Vorsatz der Ganzheitlichkeit wird auch in den Kapiteln ernst genommen, in denen es um eine mögliche neue Bündnispolitik geht. Konkret: Die Autoren beschäftigen sich intensiv mit der Lage der Mittelschichten, mit inhaltlichen Positionen der Kirchen, versuchen, so auch auszuloten, wie es einerseits um die geistige Basis eines potenziellen Bündnispartners Kirche bestellt ist und wie tragfähig andererseits Bündnisse von Gewerkschaften, Kirchen, Mittelschichten und traditioneller Linken überhaupt sein könnten. An dieser Stelle liegen Anerkennung wie Kritik eng zusammen: Die Darstellung der Intentionen der Befreiungs-Theologie und der kirchenkritischen Bibel-Auslegungen ist so umfangreich, dass dieser Vorteil für den Leser keiner ist, der in diesem Thema nicht fachkundig werden will.

Die Autorengruppe analysiert richtig, dass eine wesentliche Kraft des neoliberalen Denkens und Handelns darin liegt, den Menschen und die Welt in Fragmente und Rollen aufzuteilen. Für diese Teil-Welten lassen sich leicht Sachzwänge aufbauen, die vielen Menschen einleuchtend und nicht widerlegbar erscheinen. So sehr in dieser Fragmentierung die Kraft des Neoliberalismus liegt, so sehr liegt in seiner Aufhebung die Kraft der Gegenbewegung.

Weniger überzeugend beschreiben die Autoren, dass die Globalisierung von Eliten, auch von politischen, gemacht wird und damit kein Sachzwang ist. So sehr dies richtig ist, so falsch ist das von ihnen vermittelte Bild einer neoliberalen Welt, in der überall und alles gleich schlimm ist. So als gäbe es einen Masterplan des neoliberalen Bösen, so als gäbe es nicht allein in Europa zahlreiche verschiedene neoliberale Kapitalismen mit nennenswerten und auch aus Sicht der potenziellen Verlierer keineswegs zu vernachlässigenden Unterschieden.

Für Zeiten, in denen der eine oder andere sich erneut oder zum ersten Mal grundsätzlich Gedanken über oder gegen den politischen Mainstream machen will, lädt dieses Buch zum Verweilen ein. Dies ungeachtet der bereits erwähnten Mängel in der Analyse, auch ungeachtet der Feststellung, dass das eingangs gemachte Versprechen, es handle sich um ein durchgängig verständlich geschriebenes Buch, nicht immer gehalten wird. Es bleibt zudem der Eindruck, dass die Autoren zwar alle wichtigen Fäden und Perspektiven - das Konzept der Relationalen Psychoanalyse, alternative Bibel-Auslegung, Analyse der Folgen der neoliberalen Politik, neue Bündnispolitik - in die Hand nehmen, jedoch nicht immer wissen, was sie mit ihnen anfangen sollen. Insofern ist dieses Buch auch ein geistiges Rohstofflager, in dem noch manches lagert, was verarbeitet werden kann.

Ulrich Duchrow u.a. Solidarisch Mensch werden - psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus - Wege zu ihrer Überwindung. Herausgegeben von VSA und Publik-Forum, VSA, Hamburg 2006, 510 S., 19,80 EUR

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