Gefilteter Bodensatz

Bekenntnisse ICH LESE NUR ALTE ZEITUNGEN. Nicht die von gestern, nein, so richtig gut abhangen müssen sie sein. Drei, vier Jährchen alt. Da haben sich die Wogen ...

ICH LESE NUR ALTE ZEITUNGEN. Nicht die von gestern, nein, so richtig gut abhangen müssen sie sein. Drei, vier Jährchen alt. Da haben sich die Wogen geglättet, die Turbulenzen beruhigt, hat sich Wichtiges wie von selbst von Unwichtigem getrennt. Der gefilterte Bodensatz wartet auf meine geschätzte Aufmerksamkeit. Denn meine Zeit ist kostbar, mein Herzschlag unregelmäßig. Die ausgebrochenen Mörder, die korrupten Politiker, die falschen Ärzte interessieren mich nicht. Einer läuft immer frei rum - ob Zurwehme oder Schmökel, Koch, Kohl oder Kanther, Dr. Postel oder Dr. med. Bartholdy - meine Haustür ist fest geschlossen, meine Geldbörse zu, mein Therapeut ist TÜV-zertifiziert.

Ehe ich zur Zeitung greife, sind die Vermissten und Entführten alle wieder aufgetaucht, ob tot oder lebendig, - und schreiben Tagebuch. Die unschuldig Gedopten halten ihre Zahnpastatuben unter Verschluss und ihr Haupthaar unbeschnitten. All die Tankerunglücke, Tornados, Windhosen, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überflutungen, polnischen Hochwasser und Kollateralschäden - ich für meinen Teil passe gut auf, in keinen Wetterwinkel zu geraten. Wenn ich mich einem Landstrich widme, zittert die Erde bei 0,01 Einheiten auf der nach oben offenen Richterskala, vor Galapagos putzt sich der letzte Blaufußtölpel gerade einen Tropfen Öl aus dem Gefieder, die UÇK pflanzt Nelken in die gereinigten Kalaschnikows und Neapels Vulkane blubbern einschläfernd vor sich hin. Aus der sicheren emotionalen Entfernung vom Ereignis sehe ich auf dem Pinatubo Gänseblümchen blühen und die Schimpansen nicht in schwedischen LKWs überwintern, sondern in deutschen Käfigen, wo sie hingehören.

Die meisten Schlagzeilen in meinen alten Zeitungen überspringe ich - keine Affäre, nirgends, nichts muss mich mehr erregen, das bisschen Untersuchungsausschuss stürzt sich von allein, sagt mein Mann. Palastintrigen, Skandale, Affären, Schwarze Kassen, schwarze Löcher - aller Bimbes lässt sich auf die Höhe eines Bußgeldes reduzieren. Wie gut, dass ich´s gar nicht erst gelesen habe. Der Zeitgeist ist raus aus den Themen, ehe sie mir unter die Augen kommen, mein Urteil vom Tagesgeschäft ungetrübt. Rinderwahnsinn, Blutschande, Magersucht, Sonnenfinsternis, Sex in der Wäschekammer, Staatssekretär Hermann Kroll-Schlüter aus dem Amt geschieden, die Sachsen - wie dreist! - werden immer weniger und dabei älter, Schabowski wegen Totschlags im Gefängnis und Wahlhelfer der CDU - Aschermittwoch ist alles vorbei.

Mein oberster Lesegrundsatz ist: Keine Nackten, keine Toten, keine Idioten. Viel bleibt da nicht. Ein halbes Stündchen am Tag suche ich in meinen Zeitungen nach den beruhigenden Grundwerten: Bill Gates bleibt reichster Mann der Welt, Babs und Boris, Noah Gabriel und Elias Balthasar fahren ohne Sabs wieder gemeinsam in Urlaub, Jose Carreras braucht ganz viel Zärtlichkeit, Tempo-Taschentuch wird 70 Jahre alt! Das reicht dann erst mal, dachte ich bis zum 11. September 2001, dem Tag, der nicht nur meine Grundsätze des Zeitungslesens erschütterte.

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