Jahrmarkt ist, wenn Schausteller in die Stadt kommen und Attraktionen aufbauen. Über diese Form einer Art Kirmes für Hochkultur scheint das Konzept »Eu-ropäische Kulturhauptstadt« noch nicht hinausgekommen - was der Besucher von »Graz 2003« sofort an diversen Aufbauten in der Stadt erkennen kann. So wurde zum Beispiel dem alten Glockenturm auf dem Schlossberg ein dunkler Nachbau an die Seite gestellt. Als »Der Turm und sein Schatten« überragt die Installation die Grazer Skyline und mahnt noch im hellsten Frühjahrssonnenschein an dunkle Stellen in Vergangenheit und Gegenwart. In entgegengesetzter Richtung arbeitet der »Marienlift« am Verkehrsknotenpunkt Jakominiplatz: ein gläserner Aufzug fährt den Besucher für
;r einen Euro empor und bringt ihn auf Augenhöhe mit der güldenen Maria, die an dieser Stelle die Fußgängerzone überblickt. Eine Einladung zu Erhebung und Selbstentfaltung, wie die Aufschrift verrät. Wo diese »Attraktionen« sich mit künstlerischem Anspruch um Perspektivenwechsel und Verfremdung des Gewohnten bemühen, ermöglicht ein dritter Eingriff ins Stadtbild auf weit banalere Weise neue Ansichten: Eine künstliche Insel in Form einer gläsernen Muschel, darin eine kleine Arena und ein Café, lädt zum Verweilen über der Mur, wo man sonst nur von einem Stadtteil in den anderen quert.Trotz alledem ist einer der besten Orte, um vertraute Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen, immer noch das Kino. Auch ohne »Kulturhauptstadt«-Status findet in Graz Jahr für Jahr die Diagonale statt, das Festival des österreichischen Films. Und dieser ist schließlich bekannt dafür, dass in ihm die ach so gemütliche Welt der Heimat immer wieder als Hölle entlarvt wird, sei es in der Provinz (wie dieses Jahr im Film Ikarus) oder im Spießerurlaub (Poppitz), unter sinnenden Versagern (Ravioli) oder ehrgeizigen Migranten (Rocco). So unterschiedlich in Temperament und Stil die einzelnen Filme auch sind, zeigt sich das österreichische Kino in der Gesamtschau gerne drastisch und mit Hang zum Naturalismus: Saufen, Kotzen und von Notdurft kaum zu unterscheidender Sex sind Standardsituationen.Man könnte sich kaum einen größeren Gegensatz denken zu den Filmen des »Austrofaschismus«, die die Diagonale regelmäßig als Retrospektive zeigt. In diesem Jahr waren es zwei Filme von Géza von Bolváry, die unter anderem den Gedanken nahe legten, dass der entgrenzende Körper-Furor des Gegenwartskinos damit zu tun haben könnte, dass noch immer gegen die virtuose Künstlichkeit und Steifheit von Burgschauspielern wie Attila Hörbiger und Paula Wessely angespielt werden muss.Es ist deshalb vielleicht auch wenig verwunderlich, dass viele Filme die Erzählform des Kabarett beleihen. Komiker wie Alfred Dorfer oder Josef Hader in der Hauptrolle geben den Ton an, der variantenreich die Selbst- und Weltbeschimpfung übt. So als sei die Welt nur aus der Perspektive des Sonderlings gerade noch zu ertragen. Blue Moon mit Josef Hader, bei uns bereits in den Kinos gelaufen, wurde prompt mit dem Großen Preis ausgezeichnet.Eine ganz anders geartete Außenseiterperspektive bieten dagegen die Filme von Dietmar Brehm, die in Graz ebenfalls regelmäßig gezeigt werden und für Kenner ein Highlight darstellen. Für seine Kompilationsfilme verwendet Brehm klassisch avantgardistische Verfahren: Gefundenes und selber gedrehtes Material, teilweise phototechnisch verfremdet, setzt er zu mehrminütigen Kurzfilmen zusammen, die er immer wieder neu bearbeitet und umschneidet. Schnell wird man als Zuschauer mit dem Ausgangsmaterial vertraut, erkennt wieder, freut sich über Wiederholungen. Die Bilder bekommen eine Art Eigenleben, drängen sich mehr und mehr der Wahrnehmung auf und graben sich dem Gedächtnis ein. Allerdings gibt es keinen Erzählzusammenhang - außer dem, den der Zuschauer selbst hineinlegt. Insbesondere die Pornofilmsequenzen, die Brehm häufig verwendet, werden so zwar aus der engen Funktionalität des Erregungskinos herausgelöst; im Akt der obsessiven Bearbeitung tritt ihr erotischer Charakter jedoch um so klarer hervor.Am Wochenende strömen slowenische Touristen nach Graz und erinnern daran, dass das ehemalige Jugoslawien nicht weit von hier liegt. Die Kriege, die es dort im letzten Jahrzehnt gab, haben zwar viel Entsetzen in Europa ausgelöst, aber doch vergleichsweise wenig Protest. Die breite Öffentlichkeit des Westens schreckt wohl vor der Unübersichtlichkeit der Konflikte dort zurück; man weiß nicht, auf welcher Seite man sich engagieren soll. Wie es zu alledem kommen konnte, wo doch Jugoslawien einst als eines der »freiesten« Länder des real existierenden Sozialismus galt, darüber macht man sich hierzulande erschreckend wenig Gedanken.Was seit Titos Tod eigentlich passiert sei, diese Frage stellte sich auch Z?elimir Z?ilnik und schickte einen Schauspieler in Titos Marschall-Unform auf die Straßen Belgrads, als Katalysator für Diskussionen. Zum Erstaunen des Regisseurs spielten die Menschen sofort mit: Die Einen wollen ihn wieder haben; die Anderen machen ihm bittere Vorwürfe. Es ist die erkennbare Lust, mit der die Passanten auf die Situation einsteigen, die im Film Tito zum zweiten Mal unter den Serben so beeindruckt. Viele scheinen nur auf diese Gelegenheit gewartet zu haben, um artikulieren zu können, wie sie die Dinge heute sehen.Der jugoslawische Regisseur Zelimir Zilnik war Ehrengast der Diagonale, wo er in unermüdlicher Gesprächslust die Filme seiner kleinen Werkschau persönlich vorstellte und ein immer zahlreicher werdendes Publikum begeisterte. Was er selbst denn heute zu Tito sagen würde, fragte ihn an einer Stelle ein Zuschauer. Zilnik antwortete mit einem Teil seiner Lebensgeschichte: Als er Ende der sechziger Jahre anfing, Filme zu machen, wurde er aufgrund »anarcho-liberalistischer« Gesinnung sehr bald ein Opfer von Titos »Restalinisierung«-Phase, bekam faktisch Berufsverbot und ging für einige Jahre ins Exil. Wenn es diese Phase nicht gegeben hätte ... Zilniks Filme aus der Zeit, die unter anderem von Arbeits- und Obdachlosen handeln, zeigen jedoch, dass es keineswegs »nur« ideologische Probleme waren, die Jugoslawien in den Bürgerkrieg geführt haben.Zilniks Werke lassen sich nur schwer ins Spiel- oder Dokumentarfilme einordnen. Es ist ein Kino, das unbedingt von der Wirklichkeit handeln will, aber nicht auf jene passive, übermäßig geduldige Weise, die heute die meisten Langzeitdokus verfolgen, sondern mit zupackender Neugier. »Die Situation in Jugoslawien damals war die, dass...«, so leitete er meist die Erläuterung zu seinen Filmen ein. Sein lebendiges Interesse an den realen Verhältnissen bewahrt den Regisseur vor jeder Art des Dogmatismus, seine verspielten Doku-Inszenierungen haben den Charme der ideologiefreien Selbstverständlichkeit. Größtenteils arbeitet er mit Laien, die von der Wahrheit der Situationen, in die er sie stellt, in erstaunlicher Weise getragen werden. Wie im erwähnten Tito-Film: Die Passanten lassen sich willig auf den Schauspieler in Uniform ein, der Tito äußerlich noch nicht einmal ähnlich sieht. Aber wenn er den vertrauten Patriarchenton anschlägt, den sie alle noch in den Ohren haben - »Junger Pionier, du hast das Leben noch vor dir!« - lachen Tito-Nostalgiker und Tito-Hasser wie eine Kinderschar gemeinsam auf. Es sind solche Perspektivwechsel, die die Attraktion des Kinos ausmachen.
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