78,5 Prozent der Osttimoresen entschieden sich am 30. August 1999 bei einem von der UNO verantworteten Referendum für die Unabhängigkeit von Indonesien, das die Region nach dem Abzug Portugals im Dezember 1975 annektiert hatte. Die Antwort auf dieses klare Votum bestand in einer Orgie der Gewalt - ausgelöst von der indonesischen Armee und lokalen Milizen. Die Ausschreitungen kosteten mehr als 1.000 Menschenleben, trieben 300.000 zur Flucht nach Westtimor und hinterließen ein verwüstetes Land. Die Vereinten Nationen sahen dieser Eskalation zunächst hilflos zu. Während die US-Luftwaffe im Jugoslawien-Krieg in der Lage war, zivile Ziele punktgenau zu vernichten, sah sie sich nun außerstande, Nahrungsmittel für die hungernden, in die Berge geflohene
General Wiranto mag keine Reue
OSTTIMOR EIN JAHR NACH DEM REFERENDUM Die Unabhängigkeitsbewegung hat mit internationaler Hilfe einen fragilen Sieg errungen - Indonesien steuert seiner Selbstzerstörung entgegen
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lohenen Osttimoresen abzuwerfen. Erst am 15. September - 18 Tage nach Beginn der Massaker - entschloss sich der UN-Sicherheitsrat zum Eingreifen und genehmigte die Mission INTERFET, die unter australischem Kommando stand und am 20. September mit der Landung der ersten Soldaten in Dili begann.José Ramos Horta gibt sich staatsmännisch gelassen, ohne eine Spur von Groll. »Unsere Bevölkerung hat das lange Zeit schier Unmögliche wahr gemacht«, so der Friedensnobelpreisträger von 1996 im Gespräch anlässlich des WorldForum 2000 beim International Forum for Child Welfare im australischen Sydney. »Wir haben mit allen Mitteln und unablässig gekämpft, um nach einem Vierteljahrhundert unser großes Ziel, die Unabhängigkeit, zu erreichen«. Siegeszuversicht schwingt da allerdings nicht mit. Die eindrucksvoll unterstützte Widerstands- und Unabhängigkeitsbewegung FRETILIN bleibt mit einer fatalen Realität konfrontiert: Es gibt Siege, um die sind die Gewinner keineswegs zu beneiden. Das haben Ramos Horta, der eine gewichtige Rolle im unabhängigen Osttimor spielt, und Indonesiens Präsident Abdurrahman Wahid gemein. Erdrückend sind jeweils ihre wirtschaftlichen und (sicherheits-)politischen Probleme.Den Indonesiern die Zähne einschlagen?Im Falle des langjährigen indonesischen Staatsterrors gegen Osttimor handelte der Westen gemäß der Devise des früheren US-Präsidenten Teddy Roosevelt: »Jemand mag ein Schurke sein, entscheidend ist, er ist unser Schurke.« Noch zehn Tage nach dem Unabhängigkeitsvotum der Osttimoresen, als pro-indonesische Milizen brandschatzend und mordend durch das Land zogen - hieß es in westeuropäischen Hauptstädten: Man erwäge keine Sanktionen gegen Jakarta; sie seien »ineffektiv«. Tony Blair favorisierte wie sein Amtskollege Bill Clinton lieber eine quiet diplomacy - Ausdruck dessen, was Anthony Lewis in der International Herald Tribune zutreffend einen »Kissingerschen Realismus« nannte.Henry Kissinger - seinerzeit Außenminister - und Präsident Gerald Ford weilten im Dezember 1975 in Jakarta auf Staatsvisite, als sie der damalige Präsident Suharto über die unmittelbar bevorstehende (mit US-Waffen gestützte) Invasion Osttimors unterrichtete. Zurück in Washington, erklärte Kissinger vor seinem Stab im State Department: »Ich weiß, was das Gesetz ist. Doch kann es in unserem nationalen Interesse liegen, den Indonesiern die Zähne einzuschlagen?«Die Regierung in Canberra offenbarte ihrerseits seit 1975 einen ähnlichen Pragmatismus. Das fadenscheinige Argument: Es sollte nicht der Eindruck entstehen, man sei voreingenommen und bezöge offiziell Position für die FRETILIN und ihre Anliegen. Seit der Annexion Osttimors verstanden es die australischen Regierungen (einschließlich der regierenden Labour Party), alles zu tun, um Jakarta zu hofieren und mit Rücksicht auf florierende Wirtschaftsbeziehungen keine Verstimmung wegen Osttimor aufkommen zu lassen. Mit Blick auf die gemeinsame Erschließung entdeckter Ölquellen gab es ein inniges bilaterales Verhältnis, was vor allem australische Kritiker der indonesischen Osttimor-Politik und selbst der damals weniger geschätzte Ramos Horta zu spüren bekamen. Legion sind die Fälle, da eine kritische Berichterstattung über Gräueltaten der Indonesier unterdrückt oder eingeschränkt wurde. Wenn Australien jetzt seine Indonesien-Liebe zugunsten einer Osttimor-Fürsorge ausgetauscht hat, entspricht das bestenfalls Fassadenpflege. Als Gastgeber der bevorstehenden Olympischen Sommerspiele ist man darauf erpicht, nicht zusätzlich zu begangenen Freveltaten an den Aborigines - Landraub und Zwangsadoptionen der sogenannten »verlorenen Generation« - auch noch wegen der einstigen Osttimor-Politik angeprangert zu werden.Osttimor war bis zur Unabhängigkeit fernab medialen Interesses von systematischer Militarisierung und Pauperisierung gezeichnet. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass über 200.000 seiner etwa 800.000 Einwohner zählenden Bevölkerung infolge der indonesischen Besatzung ums Leben kamen. Was die Kindersterblichkeits- und Analphabetenrate betrifft, hält Osttimor bis heute weltweit einen traurigen Rekord. Wenn sich das Jahr Eins der Unabhängigkeit neigt, sind noch immer die meisten Schulen geschlossen. Und es bleiben die Unwägbarkeiten, eine den Namen verdienende, eigene Verwaltung und Handelsstruktur aufzubauen. Statt der indonesischen Rupiah ist inzwischen der US-Dollar gängiges Zahlungsmittel.Übergangsregierung UNTAET: Tandem mit der FRETILINSpätestens im Januar 2001 soll die Übergangsverwaltung auf Osttimor einen regierbaren und demokratischen Staat an die Revolutionäre Front für die Unabhängigkeit Osttimor, (FRETILIN) übergeben. Das ist auch der erklärte Wille des Brasilianers Sergio Vieira de Mello, der als stellvertretender UN-Generalsekretär für humanitäre Angelegenheiten seit Oktober 1999 eine Administration leitet, die aus 400 internationalen Experten sowie 700 Zivilpolizisten der Civpol besteht - sie kommen vorzugsweise aus Staaten Asiens, Ozeaniens und Afrikas. Darüber hinaus rekrutiert UNTAET 850 Beschäftigte aus der einheimischen Bevölkerung. Von Anfang an wurde auf eine enge Koordination mit dem Nationalen Timoresischen Widerstandsrat (CNRM) Wert gelegt - ein Gremium, das sich als Zusammenschluss aller für die Unabhängigkeit eintretenden Parteien und der Katholischen Kirche versteht. An der Spitze steht mit Xanana Gusmão der historische Führer der FRETILIN, sekundiert von den Friedensnobelpreisträgern José Ramos Horta und Carlos Belo, dem Bischof von Dili. Als Verbindungsglied zwischen UNTAET und CNRM fungiert der Beratende Nationale Rat (CNC), dem 15 Mitglieder angehören: Sieben vom CNRM, ein Abgesandter der Katholischen Kirche, drei Vertreter der einstigen Autonomiebewegung für Osttimor innerhalb Indonesiens und vier von UNTAET, darunter Sergio Vieira de Mello.Die Finanzierung der Mission war einer Geberkonferenz vorbehalten, die Ende Dezember 1999 in Tokio abgehalten wurde. Nach ihren Beschlüssen stehen zunächst für einen Zeitraum von drei Jahren 522 Millionen Dollar zur Verfügung - 149 Millionen für humanitäre Aufgaben und 373 Millionen für Wiederaufbau und Entwicklung. Die Mittel werden vor allem von Japan, Australien, Portugal und Neuseeland aufgebracht - in zweiter Linie von den USA, Kanada und Deutschland. Ein Problem ist derzeit die Entscheidung über die Verteilung der Finanzen, ein anderes die Entwaffnung der pro-indonesischen Milizen, die sich größtenteils als intakte militärische Einheiten nach Westtimor zurückgezogen haben.Auf interne Kritik stößt oft das Gebaren der zahlreichen - vornehmlich in der Hauptstadt Dili konzentrierten - Mitarbeiter der UN-Übergangsregierung UNTAET. Zwar managt sie einen Gutteil des öffentlichen Lebens - doch dies vielfach auf eigene Faust, ohne entsprechende Ausbildung lokaler Kader. Was das kleine Land an Zuwendungen erhält, fließt fast ausnahmslos durch die Hände von UNTAET. Angesichts einer maroden Infrastruktur und akuter logistischer Mängel sind es in erster Linie ausländische Geschäftsleute aus Thailand und der portugiesischen Ex-Kolonie Macao, die vom Handel bis hin zum Fremdenverkehr ihre Schnäppchen machen wollen.Die UNTAET - am 25. Oktober 1999 gemäß der UN-Resolution 1272 als provisorische Verwaltung eingerichtet - kann aufgrund mangelnder Ressourcen nicht verhindern, dass die gezielte, bis heute andauernde Destabilisierung aus dem indonesischen Westteil der Insel den unabhängigen Osten bis auf weiteres zu einem fragilen Gebilde verdammt. Die erst ab Ende September 1999 entsandten Soldaten einer multinationalen Friedenstruppe (INTERFET) unter Federführung des australischen Generals Peter Cosgrove kamen zudem zu spät, um mehr als Katastrophenkataster aufzustellen. Die von Westtimor ausgehenden Schießereien an der Grenze bleiben an der Tagesordnung, solange sich im fernen Jakarta die vormals mächtigen Militärs einer Aufarbeitung der Vergangenheit widersetzen und juristische Verfahren abblocken. Präsident Wahid musste auch da Lehrgeld zahlen.Order des Präsidenten sind MakulaturAbdurrahman Wahid hat das Osttimor-Inferno vom August 1999 zwar nicht zu verantworten, doch die Ereignisse liegen wie ein Schatten über seiner Amtszeit und zehren an der Autorität eines Politikers, dem der Vorwurf anhängt, die Integrität der indonesischen Nation zu untergraben. Dabei geriet der August zweifellos zum kritischsten Monat seiner zehnmonatigen Präsidentschaft. Während der mehrtägigen Sitzungen des Majlis, des höchsten Organs der Legislative, musste Wahid einen regelrechten Canossagang antreten. Er gab unumwunden zu, Fehlentscheidungen hätten seine bisherige Politik geprägt. Er bat deshalb öffentlich um Entschuldigung. Um diese Mängel zu beheben und ein effizienteres Management zu garantieren, werde er seiner Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri größere Befugnisse einräumen. Offenbar hatten eine um Ausgleich bemühte Politik und die Bereitschaft, nach Osttimor bei anderen »Unruheherden« wie Aceh (Nordsumatra), den Molukken und Irian Jaya eher konsensstiftend denn konfliktträchtig zu agieren, nicht zu den erhofften Resultaten geführt. Statt dessen glitten dem Präsidenten besonders die Ereignisse auf Ambon - der Hauptinsel der Molukken - so sehr aus dem Ruder, dass sich in Jakarta die Stimmen mehrten, der Zentralstaat steuere unaufhaltsam der Selbstzerstörung entgegen - den Auftakt dazu habe es mit der Unabhängigkeit Osttimors gegeben. Wahid wurde vorgeworfen, dass Militär verprellt zu haben, anstatt weiterhin dessen Rolle als Garant innerer Ordnung und äußerer Sicherheit zu würdigen. Jedenfalls ist die Rolle der Streitkräfte, nicht zuletzt aufgrund von Fraktionierungen und dem teilweisen Fehlen intakter Kommandostrukturen, heute weitaus komplexer und undurchsichtiger, als das noch im August 1999 der Fall war.Ordnete Wahid beispielsweise ein Reiseverbot für rechte Laskar-Jihad-Milizen von Java nach Ambon an, setzte sich Milizenchef Jaffar Umar Thalib, dem enge Kontakte zum Suharto-Clan nachgesagt werden, schlicht darüber hinweg. Im Gegenzug warfen die Milizen dem Präsidenten vor, er ergreife einseitig Partei für die christliche Bevölkerung auf den Molukken. Während dieser ethnischen und religiösen Auseinandersetzungen sorgten die Streitkräfte nicht etwa für eine Befriedung der Situation, sondern verbreiteten als marodierende Lost Commands Angst und Schrecken. Setzt sich Wahid für die Lösung der Flüchtlingsprobleme in Westtimor ein, ignoriert die Armee auch hier präsidiale Anweisungen.Unter diesen Umständen sind in Indonesien mindestens zwei Kraftzentren dabei, sich zu positionieren. Da wäre zunächst Megawati Sukarnoputri - gedemütigt durch Wahids Sieg, obgleich ihre Demokratische Partei des Kampfes (PDI-P) als deutlicher Sieger aus den Parlamentswahlen von 1999 hervorging. Die vorschnell als demokratische Galionsfigur gehandelte Megawati genießt Rückendeckung von zweifelhafter Seite - der Führungsspitze des Majlis mit Amien Rais und Akbar Tandjung. Rais - lange Zeit Führer der einflussreichen muslimischen Wohlfahrtsorganisation Mohammadiyah - beansprucht nunmehr selbst das höchste Staatsamt, während Tandjung als Chef der alten Suharto-Parteimaschine Golkar im Hintergrund die Fäden zieht. Sie führen vor allem zu General Wiranto - einst in Personalunion Verteidigungsminister und Oberkommandierender - und anderen Ex-Generälen, dem zweiten Machtpool. Diesen Kräften ist immerhin zweierlei geglückt: Der Armee verbleiben bis 2009 38 der insgesamt 700 Sitze in der Beratenden Volksversammlung. Und die Chancen, dass Militärs juristisch für Menschenrechtsverletzungen - nicht zuletzt auf Osttimor - belangt werden, sind vorerst ebenso gering wie eine wirkliche Strafverfolgung des Ex-Diktators und seines Clans.
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