Gewalt kein Indikator

Jugend-Studie in Mittel- und Osteuropa Antidemokratische Vorstellungen sind unter der schweigenden Mehrheit im Vormarsch

Rechtsradikalismus ist nicht nur in Deutschland eine Gefahr. In Osteuropa ist ebenfalls braunes Gedankengut zu finden. Hierzulande verlässt man sich auf die "wehrhafte Demokratie", die gewalttätige Übergriffe bestrafen und verhindern soll. Doch wie wehren sich die jungen Demokratien des Ostens?

Eine Studie der Erziehungswissenschaftler Gudrun-Anne Eckerle und Bernhard Kraak über antidemokratische Einstellungen bei Jugendlichen bringt alarmierende Tatsachen ans Licht. Die wirkliche Gefahr der Demokratie sind gar nicht die gewaltbereiten, kahlrasierten Rechten, auf die sich die Gegenmaßnahmen konzentrieren, sondern die schweigende Mehrheit, also gerade die Jugendlichen, die einmal diese Demokratie darstellen sollen.

In sechs europäischen Großstädten, darunter Riga in Lettland und das tschechische Brno (Brünn), wurden über 5.300 Jugendliche unter anderen folgende Aussagen vorgelegt: "Was unser Land vor allem braucht, sind mutige und entschiedene politische Führer, denen sich das Volk anvertrauen kann" und "Das Problem mit der Demokratie ist, dass viele Menschen zu dumm dafür sind oder verrückte Ideen haben". Die Statements stammen aus der berühmten Autoritarismus-Skala des Instituts für Sozialforschung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und gelten als Indikator für antidemokratische Einstellungen.

Erschreckend viele Jugendliche stimmten den Aussagen zu - in ganz Europa. Doch in den osteuropäischen Städten war der Prozentsatz besonders hoch: In Brno unterstützen 87 Prozent die Statements in mittleren bis sehr hohem Maße, in Riga gar 93 Prozent. Auffällig war, dass die antidemokratischen Jugendlichen nicht dem Bild des rechtsextremen Schlägers entsprachen. Die wenigsten von ihnen unterstützten neben den antidemokratischen Aussagen auch solche über hohe Gewaltbereitschaft. In Brno war die Bereitschaft zur Gewalt sogar am niedrigsten von allen untersuchten Städten. Vielmehr zog die rechte Gesinnung ein Gefühl von Unsicherheit und eine Sehnsucht nach Ordnung nach sich: Viele der antidemokratischen Jugendlichen hatten das Gefühl, man müsse "immer auf der Hut sein" und sehnten sich nach einem geschlossenem Weltbild, das für alle klarmache, "was richtig und was falsch ist". Sie sind der Meinung, die Gesellschaft sei bedroht, nicht nur von zu vielen Ausländern, sondern auch von den "Unnützen" und "Bösen" der eigenen Heimat, und es sei die Aufgabe der politischen Führung, diese Bedrohung zu bekämpfen. Sie sind eher ordentlich, unauffällig und ordnen sich unter. Ganz im Gegensatz zu den Gewaltbereiten, die auf Provokation setzen.

Gewaltbereitschaft ist sicher oft ein Zeichen von rechtem Gedankengut, doch der Umkehrschluss funktioniert nicht, heißt es im Fazit der Studie: Die wenigsten der antidemokratischen Jugendlichen sind gewalttätig oder anderweitig auffällig. Sie haben im Gegensatz zu den Gewaltbereiten, die stark in Gruppen Gleichaltriger eingebunden sind, ein gutes Verhältnis zu den Eltern und sind gut in der Schule. Auch die allgemein bekannten Erkennungszeichen einer rechten Gesinnung wie Glatze, Springerstiefel und Hakenkreuz tragen sie nicht. Das Klischee, das antidemokratische Einstellung mit Gewalt und kurzen Haaren gleichsetzt, greift zu kurz.

Die Forscher decken auf, dass durch die simple Zuschreibung von Rechtsradikalismus zu Gewalt und Randale die politisch relevante Entwicklung übersehen wird. In den Blick der Öffentlichkeit geraten nur spektakuläre Gewalttaten, die meisten pädagogischen Gegenmaßnahmen zielen auf die kleine Gruppe der randalierenden Schläger. Die Tatsache, dass die schweigende, autoritätsgläubige Mehrheit der Jugendlichen - nicht nur in Osteuropa, auch in Deutschland - einfach vergessen wird, ist die wirkliche Gefahr für die Demokratie.

Die Studie "Subjektive Befindlichkeit von Jugendlichen im innerdeutschen und europäischen Ost-West-Vergleich", die das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main und die Universität Rostock 1995 und 1996 in sechs europäischen Großstädten (Rostock, Frankfurt, Rotterdam, Graz, Riga und Brno) anstellten, wurde im vorigen Jahr veröffentlicht. Insgesamt nahmen 5.356 Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren an der Erhebung teil.

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