Auf ein glückliches Ende ist eigentlich von Anfang an nicht mehr zu hoffen. Denn Anna hat sich bereits umgebracht. Nun entfernt sie sich aus dieser Welt. In den vierzig Tagen, die ihre Reise ins Jenseits dauert, schreibt sie noch täglich einen Brief. Gerichtet sind sie alle an den Grund ihres Selbstmords, das Objekt einer unglücklichen, weil unerwiderten Liebe mit Namen Wilamowitz. Ihm schildert Anna ihr kurzes Leben bis zum Tode, einschließlich der gemeinsamen Begegnungen, die ihr zunehmend alles und ihm, dem Angesprochenen, so sehr viel weniger bedeuteten. Und weil die Briefe entstehen, als eben dieses "alles" schon vorbei ist, enthalten sie keinen Vorwurf, kein Selbstmitleid und auch sonst keine lebhaften Gefühle, sondern nur noch die Erinnerung daran. Von allen
len Erzählungen, in denen eine unglückliche Liebe im Mittelpunkt steht, ist Die Reise der Anna Grom eine der unsentimentalsten, was sie jedoch nicht weniger traurig macht.Wie die Autorin Maria Rybakova ist auch ihre Heldin Anna Grom Russin; und wie diese kommt sie irgendwann in den neunziger Jahren nach Berlin. Als wolle sie der allzu einfachen, weil naheliegenden Identifizierung mit ihrer Heldin vorbauen, lässt die Autorin in einem der letzten Briefe eine Figur mit ihrem eigenen Namen und ihren Lebensdaten auftreten: "Mascha R." "Ihr Großvater war in Rußland ein berühmter Schriftsteller, ihre Mutter eine berühmte Schauspielerin", erzählt Anna über Mascha - der Ruhm dieses Großvaters, Anatolij Rybakov, drang in den ausgehenden achtziger Jahren mit seinem Roman über die Stalin-Zeit Die Kinder vom Arbat, einem der ersten veritablen Perestrojka-Hits, weit über die Grenzen der Sowjetunion hinaus. Weiter sinniert Anna über die besondere Stellung der Kinder von Berühmtheiten: "In der Kindheit erleben sie wohl das gleiche wie wir alle; doch müssen ihre Erlebnisse von dem Gefühl begleitet sein, daß das dem Sohn oder der Tochter von dem und dem passiert sei, daher trauern oder lieben sie niemals richtig, sondern immer nur von oben herab." Eine im Grunde ganz ähnliche, nicht mehr einzuholende Distanz zwischen sich und den Geschehnissen wählt denn auch Anna als Erzählperspektive, wenn sie zu Beginn das Zimmer mit ihrem erhängten Leib verlässt, um sich auf die Reise ins Jenseits zu begeben. Diese Distanz ermöglicht ihr Beobachtungen von einer Schärfe, wie sie sie an einer Stelle eben auch auf sich selbst anwendet: Mascha R. "gehörte zu den Frauen, die so dünn sind, daß sie aussehen, als würden sie schlecht riechen".Es ist diese Genauigkeit im Blick auf Einzelheiten, die diesen Roman so lesenswert machen. Wie mit dem Scheinwerferlicht einer ungewöhnlich kräftigen Taschenlampe erhellt Anna die kargen Details ihres Emigrantenlebens im undurchsichtigen Dunkel der Post-Wendezeit: Ihren Alkoholikervater lässt sie in Moskau zurück, um in Berlin zu leben; dort erlebt sie auf der Suche nach Arbeit und Unterkunft bald jene existentielle Fremdheit und Einsamkeit, deren Ton ihre gesamte Erzählung prägt. So bitter und bizarr manche Schilderung ist, gibt es doch nie ein Hadern mit ihrem Schicksal, wie überhaupt das große Ganze, das sogenannte soziale Umfeld, merkwürdig verschwommen bleibt. Es ist, als halte eine über den Tod hinaus fortlebende Eigenwilligkeit die Erzählerin von jeder Form der Verallgemeinerung ab.Die Form des Briefromans, der Name des Adressaten, "Ulrich Wilamowitz", die sowohl mit Elementen russisch-orthodoxer als auch antiker Vorstellungen durchsetzte Schilderung der Reise ins Totenreich, all das könnte den Leser zunächst auf die Idee bringen, es mit einem Roman zu tun zu haben, der sich erst durch Enträtselung der zahlreichen Verweise und Anspielungen erschließt. Doch Anna, beziehungsweise Maria betreibt kein abgekartetes Zitatenspiel mit der humanistischen Bildung ihrer Leser. Der Hang zum Altphilologischen - wie Maria studiert auch Anna in Berlin Griechisch und Latein - verleiht ihrer Erzählung etwas entschieden Zeit- und gleichzeitig Zielloses, ist es doch ein Feld, auf dem alle wichtigen Wieder- und Neu-Entdeckungen bereits gemacht wurden, was dessen Studenten wiederum zum Epigonentum geradezu verdammt erscheinen lässt. Nach erfolgter Überfahrt ins Reich der Toten bekommt Anna schließlich den Lethe-Trank gereicht. So dass doch noch ein Glück am Ende steht, das Glück des Loslassens. Der Leser aber wird nicht so leicht vergessen wollen.Maria Rybakova: Die Reise der Anna Grom. Eine Liebesgeschichte. Deutsch von Dorothea Trottenberg. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2001, 251 S., 19,90 EUR