Yitzhak Rabins Worte klingen noch nach: „Wir haben eine Nachricht an die Öffentlichkeit“, sagte 1995 der ehemalige Premierminister Israels ein paar Minuten vor seiner Ermordung vor einer Masse Demonstranten auf dem heutigen Rabin-Platz, „an die jüdischen Gemeinden, an die arabische Welt, an die ganze Welt: Israel will Frieden.“
Wer dachte, jene Worte hätten Rabins Nachfolgern als Vorbild gedient, irrte gewaltig. Sein Tod bedeutete eine historische Zäsur, das Ende eines Traums. Der wurde später – auf beiden Seiten des Konflikts – grundlegend sabotiert, es kamen mehr Siedlungen, zwei Intifadas, blutige Auseinandersetzungen, die 670 Kilometer lange Mauer. Die Idee eines palästinensischen Staats rückte in weite Ferne.
Jene Er
ne.Jene Ernüchterung ist der Ausgangspunkt für die Autoren des beim Laika-Verlag jüngst auf Deutsch erschienenen Sammelbands Zu beiden Seiten der Mauer. „Was uns bewog, war das Gefühl der Dringlichkeit angesichts der Stagnation des sogenannten Friedensprozesses“, berichten die Herausgeber Ilan Pappe, israelischer Historiker an der Universität Exeter, und der palästinensische Soziologe Jamil Hilal von der Berzeit-Universität, in der Einleitung. Unter dem Namen „Palisad“ trafen sich die Autoren seit 1997 regelmäßig in Jerusalem und Ramallah. Ihre Triebfeder sei eine Vision für die Zukunft gewesen.Reizwort ApartheidSchon im Vorwort und an den Titeln der Aufsätze wird deutlich – die versammelten 14 Essays entsprechen keineswegs der Vorgabe neutraler Wissenschaft. Sie entstammen allesamt einer besatzungskritischen, „interventionistischen“ und politisch linken Innenperspektive. Wer einen sensiblen Umgang mit dem langen Lichtschatten der Israel-Debatte, besonders mit dem oft nicht unbegründeten Vorwurf des (linken) Antisemitismus erwartet, wird sich mit dem Band schwer anfreunden. „Zionismus“ wird hier zum Reizwort, „Apartheid“ und „Kolonialismus“ zur Zustandsbeschreibung, „antizionistische Kritik“ zum Etikett wissenschaftlicher Methodik. Das alles muss man erst einmal schlucken.Den Band aber der europäischen Sicht zu unterwerfen, wäre vorschnell. Als Ergebnis kritischer (Selbst-)Reflexion israelischer und palästinensischer Akademiker ist er in dieser Form einzigartig und liefert zahlreiche Einblicke in interne Debatten. Die Autoren wollen Brücken schlagen. Entsprechend lautet die Kernbotschaft des Buches: Israel und Palästina brauchen eine neue, dialoghafte, verbindende Geschichtsschreibung. Denn was die bisher bestehenden (Meta-)Erzählungen vereinte, ist nicht zuletzt die Verurteilung der Gegenseite: „Die unterschiedlichen Geschichtsbilder brachten die beiden Seiten nicht zusammen, sondern machten die Chancen auf eine Versöhnung unserer beiden Völker zunichte“, schreiben Pappe und Hilal.Die in dem Sammelband entwickelten Ergebnisse sind facettenreich: In seinem Aufsatz „Politik und Identität“ liefert der in einem Kibbuz geborene Gramscianer Ehud Aviv eine Innenschau in das politische Denken in Israel, das man, so Adiv, aus der Spannung zwischen jüdischem Nationalismus des 19. Jahrhunderts und der Analyse des Konflikts heraus verstehen müsse. Er unterscheidet Etappen israelischer Geschichtsschreibung: Von Autoren der ersten Siedlergeneration zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu den sogenannten „Neuen Historikern“, die dafür bekannt sind, Perioden und Gegenstände methodensensibel zu verschmelzen.Detailverliebtes PamphletAls Zeugen einer sich zuspitzenden politischen Lage im Nahen Osten müssten wir jedoch selbst die „Neuen Historiker“, die von manchen als selbsthassende Radikale verschrienen Autoren Tom Segev und Benny Morris, als nicht mehr zeitgemäß erklären. Adiv nennt sie „Post-Zionisten“, wirft ihnen vor, ihre zionistischen Überzeugungen nie wirklich hinter sich gelassen zu haben. „Was wir brauchen“, schreibt er, „ist eine alternative historiografische Interpretation, die sich nicht nur in der Methode, sondern auch in ihrer Substanz unterscheidet.“Adiv will die Grammatik des Konflikts neu entwerfen, endlich auch unter Berufung auf palästinensische Stimmen und durch die Neuinterpretation eines Nationalismus, der anfangs ein jüdischer war. Kollektive Identität heute müsste aber – Adiv zitiert Hobsbawm – „wie ein Hemd und nicht wie eine Haut“ gedacht werden. Adivs Pointe steht zwischen den Zeilen, ohne das Nachdenken über eine Einstaatenlösung wird keine Mauer zu Fall gebracht – auch nicht die Mauer der Ideologie.Nun gibt es ein Tabu: Dem jüdischen Staat das Wort „jüdisch“ nehmen, hieße ihm sein Existenzrecht abzusprechen. Gegenüber Antisemiten wie Ahmadinedshad, Erdogan, Mursi besteht dieses Tabu zu Recht. Dass es Menschen in Israel und Palästina – vor allem an den Unis und in der Kultur – aber inzwischen satthaben, sich in den angestammten und nicht selten rassistischen Dichotomien zu bewegen, die Israels und Palästinas Alltag bestimmen, ist ein gutes Zeichen. Derart ließe sich der Charakter mancher hier versammelter Essays am besten beschreiben: Sie denken – durch den Rückgriff auf Vergangenheit – über die Gegenwart hinaus. Nicht immer anwendbar, aber bereichernd für die politische Vorstellungswelt.Salim Tamari lässt in seinem Essay das Jerusalem von 1948 wiederaufleben – das Jerusalem der britischen Mandatszeit, vor der unüberbrückbar scheinenden Grenze in Ost und West. Tamari zitiert Tagebuchaufzeichnungen, Jerusalem war damals eine vielsprachige, kosmopolitische Stadt, und was heute kaum mehr vorstellbar ist: Juden und Araber lebten in friedlicher Koexistenz. Tamari gelingt es, die verstellten Blickrichtungen und Motivationen israelischer und palästinensischer Historiker zu entlarven.Zu beiden Seiten der Mauer ist keine Einführung in die israelisch-palästinensische Geschichte. Es ist ein detailverliebtes Pamphlet voll hybrider Spitzen und Provokationen. Dass sich unter den 13 Autoren lediglich eine Frau befindet, ist schwach. Dass die Wissenschaftlerin Rema Hammami die Einzige ist, die sich einem Genderthema widmet, wirkt wie ein Klischee. Bei ihr geht es um die Unsichtbarkeit von Frauen im palästinensischen Narrativ der „Nakba“ (zu deutsch: „Katastrophe“) von 1948.Israel ist kein Unfall der Geschichte. Und kein Fremdkörper im arabischen Raum. Zionismus mag außenpolitisch pervertiert worden sein, ist aber nicht per se menschenverachtende Ideologie. Scharfe Kritiker wie David Grossman, Amos Oz und Yoram Kaniuk haben hierauf immer wieder hingewiesen. Schade, dass sich jener Hinweis den Autoren des Sammelbands von vornherein erübrigt.