Paulchen liegt mitten im Weg. Das macht er immer. Paulchen ist alt, etwas dick, aber noch stattlich. Er hat die Ruhe weg. Das ganze Theater geht ihn nun wirklich nichts an. Manchmal spricht ihn einer an: Geh mal zur Seite. Oder einer der schweren Eisenstühle wird gerückt, dann rutscht auch Paulchen ein Stück und döst weiter. Was soll er auch machen - ein Hund unter wirren Menschen. Paulchen hat keine Wahl, es geht ihm gut.
Das Cafe Zapata im Tacheles am Rande des Berliner Scheunenviertels veranstaltet eine "Stoppt Stoiber Party". Was sonst. Gegen 16.30 sind fast alle Tische besetzt. Auf einer Leinwand läuft das ZDF-Wahlstudio. Die Rede ist von "Wahlkrimi", "Richtungswahl und Politikwechsel". Kollektiver Fernsehempfang, manche Gäste sind zufällig hier, die
8;llig hier, die meisten kommen öfter. Das Zapata ist ein Ort für Leute, die (noch oder wieder) wissen, wer Zapata war. Emiliano Zapata, revolutionärer mexikanischer Bauernführer, der Ländereien von Großgrundbesitzern zugunsten landloser Bauern enteignen und den Indios ihr Land zurück geben wollte. Zapata wird 1919 ermordet. Sein Name erinnert an soziale Gerechtigkeit. Zapata, das könnte ein Programm sein. Klingt aber zu sehr nach Aufruhr und Veränderung. Wer will das schon - hier wird gewählt. Allmählich verändert sich die Sitzrichtung, Gesicht zur Leinwand, der Gesprächspegel sinkt. Wenn das Rückwärtszählen mit dramatisch bebender Stimme beginnt, ist sowieso alles gelaufen. Kreuz an der falschen Stelle? Die "Nie-war-sie-so-wertvoll-Stimme" verschenkt? Drei, zwei, eins - 18.00 Uhr. Prognose, gewissermaßen der Kostenvoranschlag fürs nächste Parlament. Erster Schreck und erstes erleichtertes Jaa! Die Stimmung wird locker. Mein Gegenüber zeigt keine Gefühlsregung, aber Gesprächsbereitschaft. Ja, er war wählen, verspricht sich aber nicht viel davon. Das letzte Mal, da hat er noch gehofft, dass sich was tut in Richtung sozialer Gerechtigkeit. Und was war? Steht irgendwo irgendwas von Zapata? Kein Wort, sogar das Schild draußen wurde abgerissen. Ja, ja, er winkt ab. So vergeht das eigene Leben. Zehn oder zwölf Mal gewählt - und schon ist es vorbei. Schlechte Prognose. Der Mann zeigt auf die Leinwand: Die ändern nichts. Trotzdem will er wissen, wer an die Macht kommt, um nichts zu ändern.Der Feuer-Drachen spuckt rotPaulchen hat inzwischen den Platz gewechselt und drängt sich zu Frauchen durch. Das sitzt vorn am Eingang, wo ein Wettbüro bis fünf vor sechs Wetten angenommen hat - mit 100-prozentiger Gewinnausschüttung bei einem Einsatz von fünf Euro. "Der Inhaber dieses Wahlzettels sagt den Großen Einlauf der Parteien voraus" - die Wettleidenschaft hält sich in Grenzen. Zu fließend sind die Übergänge. "Ob Schily oder Beckstein, welche Wahl habe ich da?" fragt einer. Favorit der Gefühle sind die Grünen. Ganz besonders Ströbele. Als sein Wahlsieg verkündet wird, spuckt der metallene Feuer-Drachen am Tresen rot. Selbst der Hund Paulchen hebt den Kopf. Der Mann, den sie von der Landesliste gewischt hatten, holt erstmals in der Geschichte der Grünen ein Direktmandat. Für den Literaturstudenten Thomas ist klar: Ströbele wurde gewählt, weil er integer ist, für seine Positionen kämpft und Ideale nicht eintauscht gegen Beliebigkeit. Die Wähler hätten doch ein Gespür dafür, ob Politiker krumm oder gerade sind.Aber wer will schon darauf wetten? Celiné, 19 Jahre, sie will es, als Ersatz dafür, dass sie als Ausländerin nicht richtig mitspielen darf. Sie hofft auf Rot-Grün: "Stoiber wäre katastrophal". Sie ist aufgeregt. Noch sind die Messen nicht gesungen. Nach 20.00 Uhr kann sie sich ihren Gewinn abholen. Bis dahin geht sie zur SPD-Feier. Ich sehe sie nicht wieder. Auch vom Wettbüro ist später keiner mehr da. Risiko - passend zum Ereignis - und zum Leben überhaupt. Jedenfalls sieht Barbara das so. Sie ist 36, als Freie im Mediengeschäft. Und da wisse ja jeder, was gespielt wird. Pleiten, Pech und Pannen? So schlimm nun nicht, aber riskant. "Was weiß ich, was in vier Jahren mit mir passiert." Sie hätte schon gern ein Stück mehr Sicherheit und hofft, die "SPD wird irgendwann mehr dafür tun, dass die Leute wieder von ihrer Arbeit leben können". Am liebsten würde sie die Politiker - durch die Bank - aufs Arbeitsamt schicken. "Am Schlauch der Wirtschaft hängen sie alle. Aber da traut sich keiner ran." Andreas, Besitzer eines Musik- und Kunstladens, fallen dazu sofort die Steuervorteile für Großkonzerne ein. Er glaubt, dass "die Gesellschaft auf eine soziale Katastrophe zusteuert". Mit der Hartz-Geschichte würden die Menschen in immer schlechtere Verhältnisse gezwungen. "Ich sehe es in meinem Geschäft: die Kunden sparen. Musik und Kunst sind Luxus. Das kann es doch nicht sein." Andreas wünscht sich deshalb auch im Bundestag ein starkes politisches Gegengewicht wie die PDS. "Gut, dass sie da ist. Es wäre wirklich schade, wenn sie nicht reinkommt. Warten wir die nächste Hochrechnung ab." Die PDS kommt nicht rein. Mutmaßungen machen die Runde: Vielleicht hätte sie bei klarer Opposition mehr Stimmen bekommen. In der Regierung, wie in Berlin, sähe sie schlecht aus - Kürzen und Sparen wie die anderen auch. Enttäuschte Erwartungen. "Ich finde es schade, dass ein Stück Weltsicht verloren geht". Für Andreas fehlt eine Position im demokratischen Spektrum.Im Laufe des Abends höre ich diese Meinung noch oft. Aber langsam ist die Luft raus. Man hat sich aufgeregt, tatsächlich ein bisschen gebangt, hat sich gefreut und geärgert. Die Wahlparty gleitet sacht ins normale Leben zurück. Trinken an sich und auf Rot-Grün. Musik überdröhnt den Fernsehton. Von den Gesprächsrunden will kaum einer etwas wissen.Das Mädchen soll Luna-Maria heißenAuch Paulchen setzt sich in Bewegung und schleppt sich vor die Tür. Da regnet es. Paulchen trottet zurück. So ist das Hundeleben. Sein Frauchen gibt draußen einem aufgeregten Herrn die Auskunft, dass die Wahlparty der Grünen im Tempodrom in Kreuzberg stattfinde. Hier sei das Zapata mit der "Stoppt Stoiber Party". Auch gut, meint der Mann. Dann bleibe er eben hier. Weiß einer, wie´s steht? Ja, sagt das Frauchen, 60 Prozent. Der Frager ist irritiert: Wer? Die PDS, glaube ich, sagt die Frau. Das wäre ja... sagt der Mann. Der Irrtum klärt sich auf. Und was ist mit Ströbele, hat er es geschafft? Kommt der Mann vom Mond? Das nicht. Er ist nur mal auf einen Sprung von der Charité hierher gekommen. Matthias Dittmer wird Vater. Seine Frau wird ein Mädchen entbinden, das soll Luna-Maria heißen. Und eigentlich muss er gleich wieder weg. Schon 1998 hat er sich in einer Wahlinitiative für Ströbele engagiert, ist dann aber raus aus der Politik, hat wieder in seinem Beruf als Schauspieler gearbeitet, zum Beispiel in dem Film Black Box BRD. Matthias Dittmer lässt sich zum Kaffee überreden. Über Ströbeles Ergebnis freut er sich sehr, natürlich. Die Abwahl der PDS sei "strategisch ganz interessant": Die Grünen könnten die PDS beerben. Langfristig bestünde die große Chance für eine linke ökologische Volkspartei, libertär, kapitalismuskritisch. Politik für dieses Jahrhundert. Dann klingelt sein Handy. Ja, das Kind kommt wohl noch am Wahltag. Matthias Dittmer muss los. In 20 Jahren wird er seiner Tochter vielleicht von diesem Abend erzählen.
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