Der Vorgang wirkt einigermaßen bizarr und hat bisher kaum die Würdigung erfahren, die er verdient. Ausgerechnet nach Ausbruch einer schweren - vielleicht der bisher schwersten, weil logischsten und unaufhaltsamsten - politischen Sinnkrise nötigt sich die EU einen Erweiterungsschritt ab, mit dem sie sich in ihrer bisherigen Form abschafft. Dies gilt weniger wegen der ökonomischen Expansion und ihrer Risiken, sondern hat eher etwas mit dem von außen wie von innen erzwungenen Verzicht auf einen Anspruch zu tun, der unter Berufung auf Ahnherren der Union wie Schumann, de Gaspari, Adenauer und de Gaulles als »europäischer Gedanke« hofiert wurde und nun, nach dem Krieg im Irak, recht angeschlagen wirkt.
Vergegenwärtigen wir uns: Zur »Einheit der 1
heit der 15« stoßen in einem Jahr mit Polen, Ungarn, Estland, Litauen, Lettland, Tschechien, Slowenien und der Slowakei Länder aus Ost- und Mitteleuropa, die diese Einheit jüngst wegen ihrer Einigkeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika erkennbar brüskiert haben. Sie konnten dies in der sicheren Gewissheit tun, dass diese Einheit bereits seit längerem erschüttert war und ohnehin nie als das existiert hatte, was behauptet wurde - man denke an die reklamierte, aber kaum realisierte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU. Die Dissidenten aus dem Osten durften außerdem sicher sein, keineswegs mit Sanktionen rechnen zu müssen, die bis zur Relegation aus dem EU-Kandidatenkorps hätten führen können. Formal stand dem der Erweiterungsbeschluss des Kopenhagener EU-Gipfels im Wege, den zu revidieren einen Eklat heraufbeschworen hätte. Viel entscheidender aber blieb, dass es Briten, Spaniern und Dänen nicht im Traum eingefallen wäre, den mit ihnen in einer Kriegsfront stehenden Polen und Ungarn den Stuhl vor die Tür zu setzen, um vielleicht den sich in Reserve haltenden Franzosen und Deutschen einen Gefallen zu tun.So handelten die Amerika-Freunde in Warschau, Budapest und anderswo ohne Risiko für ihre europäischen Ambitionen. Sie hatten schließlich erlebt, wie ihre seit 1990 stets als historisch gefeierte Heimkehr ins »Europäische Haus« in den Glorienschein des absolut Zwangsläufigen getaucht wurde. Das zu hinterfragen, lief auf Ketzerei hinaus. Allein Umstände und Tempo dieser Heimkehr galten als verhandelbar, der Vollzug nicht. Im Rückblick überwiegt der Eindruck, dass die EU als Herr dieses »Europäischen Hauses« entschlossen war, diesen Vorgang viel mehr durch ihr bloßes Da-Sein zu prägen als durch aktives Tun, um sich dadurch auf die neuen Bewohner ein- oder sogar umzustellen. Die Hausordnung galt als sakrosankt - sie nach Alter, Herkunft oder gar aktuellem Sinn zu befragen, als Sakrileg. Man konnte sich der eigenen Sogwirkung auf die Aspiranten sicher sein, und allein das hatte Gewicht. Immerhin erlaubte ein EU-Beitritt Zugang zu einem Wirtschaftsraum, von dem sich die mittelosteuropäischen Transformationsstaaten nicht nur einen Gewinn an Prosperität und Wohlstand erhofften. Der Schritt an sich war zudem symbolisch aufgeladen, da er dem ab 1989/90 vollzogenen Systemwechsel erst die endgültigen Weihen zu verleihen schien. Auch wenn es inzwischen bei Polen, Tschechien oder den baltischen Staaten mehr um die Überwindung andauernder wirtschaftlicher Stagnation geht.Diese ins existenziell Ökonomische weisenden Motive hinderten jedoch nicht daran, den Vorgang der EU-Osterweiterung idealistisch zu überhöhen und von einer »Rückkehr nach Europa« zu sprechen. Das unterstellte nebenbei gesagt so etwas wie eine temporäre Abwesenheit der betreffenden Länder oder gar deren Ausschluss aus dem kontinentalen Verbund. Wieder einmal war zu erfahren, wie sich mit der Deutungshoheit über 50 Jahre europäischer Nachkriegsgeschichte zugleich eine Definitionsmacht verband, die sich berufen fühlte, darüber zu entscheiden, was davon europäisch genannt werden durfte und was eben nicht.Um so mehr reizt natürlich bei einem solchen Anspruch die Frage, welches »Europa« heute die Heimkehrer eigentlich empfängt? Das 1945 für die Osteuropäer mutmaßlich verlorene Terrain kann es nicht sein. Also bleibt nur das im Frühjahr 2003 existierende »Europa«. Nur welches davon? Das mit den epochalen Feldzügen der Supermacht verbündete? Das Zerfallende der Illusionisten, das nicht einmal mehr aufschreit, wenn in Bagdad unter den Augen der Besatzungsmacht, die währenddessen lieber das Ölministerium bewacht, unersetzliche Güter des Weltkulturerbes zerstört werden? Das Europa der Bürger, das höchst selten gefragt wird vom Europa der Staaten? Das Europa der Märkte, auf dessen großen Freiheitsdurst Verlass ist? Wie sich zeigt, beantworten die acht Neu-Mitglieder aus dem Osten diese Frage höchst pragmatisch und neu-europäisch. Sie nehmen, was ihnen nutzt, und dabei den Gemeinsamen Markt zuerst. Die Europäische Union - die noch existierende - kann sie darin nur bestärken, weil sie selbst heute schon (und künftig wohl immer mehr) vorzugsweise als Wirtschaftslandschaft fortbestehen wird und weniger als politischer Biotop, als ein auf souveräne Handlungen bedachter Staatenbund. Dieses »neue Europa« beginnt im Übrigen dort, wo das »alte« partout nicht enden wollte und sich der Einsicht entzog, zuallererst - wenn auch nicht ausschließlich - ein Kreuzfahrer des Kalten Krieges gewesen zu sein. Alle Versuche, diese Wahrheit zu verdrängen, mussten spätestens in dem Augenblick zur eingangs erwähnten Krise führen, da die kurzlebige Nachordnung des Kalten Krieges durch die Neue Weltordnung der heißen Kriege abgelöst wurde. Die EU-Neuzugänge aus Osteuropa übernahmen die Rolle des Herolds, um diese Kunde zu überbringen - gerade noch rechtzeitig vor dem Irak-Krieg. Den »Europäern« blieb nichts anders übrig, als sie trotzdem ins Haus zu bitten, hinein ins viel bewunderte »Europäische Haus«. Und siehe da, es war recht wenig an Mobiliar geblieben.EU-Referenden in OsteuropaEU-KandidatTermin der AbstimmungPrognoseLitauen / Lettland10./11. Mai 2003Jeweils 65 bis 70 Prozent mit JaSlowakei16./17.Mai 200375 Prozent mit JaPolen7./8. Juni 200360 bis 63 Prozent mit Ja *Tschechien13./14. Juni 200365 Prozent mit Ja* In Polen ist das Votum nur gültig, wenn mindestens 50 Prozent der Stimmberechtigten zur Wahlurne gehen. In den baltischen Staaten besteht dieser Vorgabe nicht. Sollte in Tschechien und der Slowakei das Referendum scheitern, müsste die Parlamente den EU-Beitritt mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit absegnen.
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