Russland Um ein privates Grundstücks-Management zu vermeiden, haben Mieter in Astrachan die Bewirtschaftung ihrer Plattenbauten in Selbstverwaltung übernommen
Dass in der Elften-Rote-Armee-Straße gerade Tatjana Jeremetowa die Selbstverwaltung dirigiert, grenzt nicht an Wunder. Die resolute Frau hat drei Kinder großgezogen und zu Sowjetzeiten Kinderferienlager auf der Krim geleitet, sie lebt von ihrem Mann getrennt und ist wirklich nicht auf den Mund gefallen. Also führt sie das Wort bei der Anwohner-Initiative, die im Kirow-Bezirk am östlichen Stadtrand von Astrachan zwei Häuser selbst bewirtschaftet.
„Hier hat alles angefangen“, sagt Tatjana. Die energische Frau mit der wasserstoffblonden Turmfrisur zeigt im schwach beleuchteten Keller des Mehrfamilienhauses auf ausrangierte Sofas und Tische, auf denen Abrechnungsbücher liegen. Der Kellerraum dient den Aktivisten, die mit ihrem Projekt im Kirow-Bezirk zu
-Bezirk zur landesweiten Sojus Schitelej (Union der Anwohner) zählen, als Büro und Versammlungsraum. Sojus Schitelej entstand 2006 auf Betreiben des linken Duma-Abgeordneten Oleg Schein in Astrachan, der Stadt am Nordufer des Kaspischen Meers, und sollte bald auf Dependancen in Moskau, St. Petersburg, Perm, Wolgograd, Kaliningrad, Pskow und Kostroma verweisen können.Tatjana Jeremetowa zeigt auf neu verlegte Wasserrohre, auf Ventile und Messgeräte. „Alles wurde unter der Selbstverwaltung installiert“, schaut sie sich stolz im Halbdunkel des Kellers um. Das heißt in Astrachan, die Kosten für Strom, Gas und Warmwasser zahlen die Anwohner individuell. Für die Instandhaltung des Daches, der Wasserrohre und des Treppenhauses ist die Selbstverwaltung verantwortlich. Die Kosten werden per Umlage finanziert.Dampf im TreppenhausBevor die Anwohner in der Elften-Rote-Armee-Straße sich selbst zu helfen begannen, verfielen die Häuser im Kirow-Rayon immer schneller. Die Privatfirma, die bis 2006 dafür verantwortlich war, tat nichts für deren Instandhaltung. Da fand sich dank des 2005 erlassenen Wohnungsgesetzes ein Ausweg. Danach können in Russland Wohnhäuser mit mehreren Mietparteien auf dreierlei Weise verwaltet werden – durch private Unternehmen, durch Genossenschaften oder in Selbstverwaltung der Mieter. Letzteres sei die einzige Bewirtschaftungsform, die Korruption unterbinde, meint Tatjana Jeremetowa, die in der Elften-Rote-Armee-Straße regelmäßig Meetings auf dem Hof veranstaltet. Es hat sich so gefügt, dass ihre Sekundanten vorrangig Frauen mit erwachsenen Kindern sind. Sie haben Zeit für die Selbstverwaltung – die Männer müssen tagsüber Geld verdienen.Noch vor zwei Jahren sah es in den Häusern an der Rote-Armee-Straße schlimm aus, klagen die Frauen. Die Keller standen voll Wasser, Dampf-Wolken zogen durch die Treppenhäuser – mit anderen Worten, freiwillig haben die Anwohner im Kirow-Bezirk nicht mit der Selbstverwaltung begonnen, sondern wurden durch die Umstände dazu gezwungen.Im Juni 1991 hatte der Oberste Sowjet ein Gesetz verabschiedet, das den kostenlosen Erwerb von Wohnraum ermöglichte. Einzige Bedingung: Man musste in der entsprechenden Wohnung gemeldet sein. Den meisten war damals nicht bewusst, wie revolutionär das war. Im Gegensatz zu den später unter Boris Jelzin vollzogenen Privatisierungen der Betriebe wurde das Wohneigentum in viele Hände übergeben. Andererseits ließ sich kaum übersehen: Der Staat zog sich komplett aus der Instandhaltung von Wohnhäusern zurück. Besonders an der Plattenbauperipherie vieler Städte kümmerte sich niemand mehr um defekte Türen oder Regenrinnen.Was waren die ersten Schritte der Anwohner in der Elften-Rote-Armee-Straße zur Rettung ihrer Häuser vor dem Verfall? Zunächst zahlte jede Wohnung 1.000 Rubel (etwa 25 Euro), damit die Heißwasserrohre ausgewechselt werden konnten. Dann säuberte man in Subbotniks – so nennt man freiwillige Arbeitseinsätze in Russland – die Keller von Müll und Unrat. „Die Türen standen ja jahrelang offen. In den Kellern lebten Katzen, Ratten und Kakerlaken. Es war schrecklich“, erzählt Tatjana. Jetzt zahlt jeder Mieter 8,7 Rubel pro Quadratmeter Wohnfläche. So kommen pro Haus monatlich umgerechnet bis zu 1.600 Euro zusammen. Das ist nicht viel Geld, aber die Menschen im Kirowski Rayon haben keinen Rubel zu verschenken. Die Monatslöhne in der Stadt liegen im Schnitt bei 175 Euro, die Renten bei 125. Man schlägt sich gerade so durch. „Wir haben einiges erreicht! Die Treppenhäuser wurden neu gestrichen, das Dach repariert“, meint Tatjana. Auf einem Bürotisch im Keller liegt ein aufgeschlagenes Abrechnungsbuch. „Hier kann jeder sehen, wie viel wir eingenommen haben und wofür etwas ausgegeben wurde.“ Sojus Schitelej in Astrachan arbeitet auch mit Wohnungsgenossenschaften zusammen, aber – so Irina Amburzewa, Leiterin der Ortsgruppe von Astrachan – man propagiere die direkte Selbstverwaltung. Die habe den Vorteil des geringen bürokratischen Aufwandes. Bei den Wohnungsgenossenschaften gäbe es einen Verwaltungsapparat, der viel Geld koste. Der Nachteil genossenschaftlicher Verwaltung in Russland sei auch – so Amburzewa –, dass die Genossenschaften gegenüber den Energie-Versorgern als juristische Person auftreten und so bei Schulden einzelner Anwohner Hausgemeinschaften in Haftung genommen würden. Wenn jemand seine Stromrechnung nicht bezahlt habe, komme es vor, dass dem ganzen Haus der Strom abgestellt werde. Das sei bei selbstverwalteten Häusern, wo man individuell abrechne, nicht möglich.Die für die Wohnungswirtschaft in Astrachan zuständigen Beamten hätten die Selbstverwaltung lieber heute als morgen abgeschafft, meint Amburzewa. „Sie stecken mit den privaten Firmen für die Wohnungsbewirtschaftung unter einer Decke. Gelder der Anwohner wandern sonst wo hin, anstatt sie zweckorientiert zu verwenden.“ Seit Monaten schon kämpft die Putin-Partei Einiges Russland in der Duma um ein Gesetz, um die Selbstverwaltung wieder abzuschaffen, bisher ohne Erfolg.Zu den Erfolgen der Sojus Schitelej in Astrachan gehört auch ein Urteil, wie es Irina Amburzewa erstritten hat. Im Oktober 2010 entschied das Gericht der Stadt zugunsten eines Anwohners, den Irina juristisch beraten konnte. Die Ölgesellschaft Lukoil, die für die Heißwasserversorgung in der Stadt zuständig ist, wurde gerichtlich verpflichtet, den Heißwasser-Zähler bei einem Mieter wie vorgeschrieben zu plombieren und individuell abzurechnen. Bis dahin hatte Lukoil den Warm-Wasser-Verbrauch des Anwohners nach dem Durchschnittsverbrauch des Plattenbaus abgerechnet. Nach den Recherchen von Irina war es das erste Mal, dass ein russisches Gericht ein solches Urteil zugunsten der Anwohner fällte. Der Fall besaß eine Vorgeschichte, die einiges über das russische Aufsichtswesen aussagt. Zunächst hatten die Staatsanwaltschaft und die Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor gegen den Ölkonzern geklagt. Beide Mal ohne Erfolg. „Wahrscheinlich wegen schlechter Prozess-Vorbereitung oder wegen Bestechung“, vermutet Irina. Russlands Anti-Monopol-Behörde wiederum erklärte sich für den Fall nicht zuständig. Nun schlug die Stunde von Sojus Schitelej. Wochenlang kniete sich Irina in den Fall und hatte schließlich vor Gericht Erfolg. Das juristische Wissen eignete sich die gelernte Kinder-Ärztin im Selbststudium an.Ein Streichholz hinterherFür Astrachan mit seinen 850.000 Einwohnern ist der oft marode Zustand vieler Häuser ein kommunales Desaster erster Güte. „40 Prozent unserer Häuser sind baufällig“, meint die zuständige Stadträtin, Swetlana Archarowa. Den Ausweg aus dieser Misere habe Ministerpräsident Putin schon vor Jahren richtig beschrieben: Private Firmen müssten sich um die Bewirtschaftung der Mehrfamilienhäuser kümmern. Von Selbstverwaltung der Anwohner hält Archarowa nichts. Vom Finanziellen her bewege sich da zu viel in einer Grauzone. Zudem habe die Regierung 2007 Gelder für Mehrfamilienhäuser bereit gestellt. Tatsächlich flossen umgerechnet sechs Milliarden Euro aus dem beschlagnahmten Vermögen des Ölkonzerns Yukos in die Wohnungswirtschaft. Davon erhielt Astrachan 50 Millionen. 912 Häuser habe man dank dieser Mittel sanieren können, so Archarowa, leider sei das nur ein Teil der baufälligen Immobilien.Irina Amburzewa von Sojus Schitelej fällt ein vernichtendes Urteil über die Yukos-Gelder. „60 Prozent dieser Zuschüsse landeten in den Taschen der örtlichen Beamten. Und dann kam das Geld nur Häusern oder Wohnblöcken zugute, die von privaten Unternehmen und Genossenschaften bewirtschaftet werden. Für die Gebäude in Selbstverwaltung fiel kein jämmerlicher Rubel ab.“ So versuche man Sympathisanten von Sojus Schitelej das Leben schwer zu machen. Um so mehr werde die Selbstorganisation der Anwohner als Fanal gebraucht, glaubt der linke Duma-Abgeordnete Oleg Schein. Sonst lasse sich die satte Lobby aus Privatwirtschaft und Beamten nicht aufmischen. Auch dürfe der Staat nicht aus seiner Verantwortung für die Wohnqualität der Menschen entlassen werden.Schein erinnert daran, dass es 2005 regelrechte Feuersbrünste in Astrachan gab, die acht Monate lang die Stadt in Atem hielten. Ausnahmslos Brandstiftungen, wie die Polizei ermittelte. Von den Anschlägen waren Kaufmannshäuser in der Altstadt betroffen. Es lief immer nach dem gleichen Muster – jemand schüttete morgens um fünf Benzin in einen Hausflur und warf ein brennendes Streichholz hinterher. Die Untersuchung ergab: Das Bürgermeisteramt hatte geltende Gesetze missachtet und die Grundstücke – ohne Zustimmung der Hausbewohner – an Privatunternehmen verkauft, die zu wissen glaubten, wie sich die nötige Baufreiheit verschaffen lässt.
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