Im Loch der Ideologie

Bühne Der Regisseur Hakan Savaş Mican hat für seine Bühnenadaption von Orhan Pamuks Roman „Schnee“ im Ballhaus Naunynstraße kurzerhand in die deutsche Provinz verlegt

Im Jahr 2005 erschien in Deutschland der Roman Schnee von Orhan Pamuk. Die Handlung spielt in Kars, einem türkischen Provinznest. Ein auswärtiger Schriftsteller spürt dort eine alte Liebe auf und wird, als er versucht, einer Selbstmordserie junger Frauen auf den Grund zu gehen, Zeuge des erbitterten Tauziehens zwischen den politischen Kräften. Es geht um den Ursprung fundamentalistischer Strömungen, die Pamuk zufolge ihren Grund in einer schmerzhaften Kränkung haben, die vom Wissen um die eigene Bedeutungslosigkeit im Hinblick auf die westliche Welt herrührt.

Der deutschtürkische Regisseur Hakan Savaş Mican hat gemeinsam mit dem Dramaturgen Oliver Kontny eine Bühnenfassung von Schnee geschrieben und die Handlung in das fiktive Karsberg verlegt, also nach Deutschland. Im Berliner Ballhaus Naunynstraße, wo die Inszenierung zur Aufführung kam, steigt eine Eisschollenlandschaft aus weichem Schaumstoff auf. Die Fundamentalisten Karsbergs folgen dem charismatischen Anführer Grün (Aleksander Tesla), das Aktionsbündnis „Freies Karsberg“ hat sich hinter Herbert (Godehard Giese) formiert, der behauptet, der Islam habe seine Stadt wie einen Virus befallen. Die Deutschen konvertieren hier reihenweise zum Islam, der angesichts einer zerfallenden Gesellschaft große Anziehungskraft hat. Herbert gibt sich als sozialpädagogisch angehauchter Superman: „Immer musste ich auffangen, was Vater Staat gerade kaputt macht. Sie bauen die Sozialleistungen ab, wir müssen uns um die gescheiterten Existenzen kümmern, bevor die Islamisten mit ihren Saftpressen kommen, und zack, sind sie konvertiert.“

Sich das aus dem Roman entlehnte Szenario als ein deutsches vorzustellen, ist zwar surreal und entbehrt nicht einer gewissen Komik. Die wird hier ausdrücklich gesucht und bedient, im liebevollen und selbstironischen Ausspielen von Klischees. Das ist manchmal etwas ungelenk, bedient aber auf verquere Weise die Erwartungshaltung des Publikums.

Privatpolitik

Ein Attentat auf den Schulleiter Norbert, der das Tragen von Kopftüchern in seiner Schule verboten hatte, führt zur Radikalisierung des Konfliktes. Am Ende gibt es Tote, zu denen der Junge Johann zählt, ein aufstrebender Autor muslimischer Science-Fiction-Comics. Seine Rolle, wie die der von ihm angebeteten Samt, spielt die junge Nora Abdel-Maksoud mit Witz und überschäumender Energie.

Herbert und Grün sind, wie sich parallel zur Entfaltung der politischen Querelen herausstellt, auch in erotischer Hinsicht Rivalen. Und das ist der interessante Aspekt an diesem Stoff, der weniger inhaltlich den Positionen auf den Grund geht, als dass er die Dialektik ideologischer Grabenkämpfe vorführt: In Schnee wird deutlich, wie alle Figuren biografisch miteinander verbunden sind, wie das Private und das Politische in eins fallen und Überzeugungen am Ende austauschbar und – vor allem – destruktiv wirken.

Für die Kritik an der politischen Ideologie steht der Dichter Ka (Mehmet Yilmaz). Er verhält sich passiv wie eine Tschechow-Figur, bezieht nicht Position, verkörpert durch seine Anwesenheit aber jene Distanz, die nötig ist im Umgang mit Ideologie. Ka verfolgt rein erotische Absichten, er will Seide (Sesede Terziyan), die melancholische Schöne, das erotische Zentrum des Stücks, mit sich fort nehmen, um seiner Einsamkeit zu entfliehen. Daran scheitert Ka, am Ende behält die weise Seide das letzte Wort: Ja, Karsberg ist ein Loch, und wer einmal hineingefallen ist, kommt nicht wieder heraus.

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