Im Schwimmbad 2

Kehrseite I Die Leitung des Schwimmbads warnt jetzt ausdrücklich: "Vermehrt haben sich weibliche Badegäste darüber beschwert, in den Umkleiden beobachtet zu ...

Die Leitung des Schwimmbads warnt jetzt ausdrücklich: "Vermehrt haben sich weibliche Badegäste darüber beschwert, in den Umkleiden beobachtet zu werden. Wir schaffen Abhilfe, bitten aber auch unsere Gäste, vorsichtig zu sein ..."

Es ist schwierig geworden. Dabei erlauben die Kabinen eine Sicht, von der man in anderen Bädern nur träumen kann. Einige der Frauen ziehen sich hastig den Badeanzug über ... so schnell, als ob sie die Welt retten wollten. Andere dagegen vergessen die Zeit, sitzen auf der Kabinenbank und träumen vor sich hin. Wieder andere streichen sich über die Wangen, fassen sich an Nase und Kinn, wiegen ihre Brüste in der Hand und begutachten sich lange im Spiegel. Über allem liegt eine merkwürdige Stille, der Ton der Gespräche gedämpft, ein Lachen da und dort, in der Ferne das Rauschen der Schwimmhalle. Eine Erklärung? Es ist dieser Augenblick, in dem sie mir ihre Nähe schenken. Dieser Augenblick, von dem sie nichts wissen. Für die meisten bin ich unsichtbar, im Bad wie auf der Straße.

Jetzt gebe ich vor, mich abzutrocknen und mustere dabei die Badegäste, die vom Einlass her kommen. Dort: eine Frau mit langem Haar und federndem Schritt. Ich folge ihr. Sie schließt sich ein. Ich besetze die gegenüberliegende Kabine. Mit dem Gesicht gehe ich nah an den Spalt, will die Frau aus nächster Nähe sehen. Sie wendet mir ihren Rücken zu, zieht einen Bikini aus ihrer Tasche. Plötzlich dreht sie sich um, sieht in meine Richtung. Die Blicke treffen sich. Erschrocken rutsche ich an das andere Ende der Bank, flüchte aus der Kabine und beschleunige die Schritte zur Schwimmhalle. Dort stürze ich mich ins Becken, stoße mich kräftig vom Rand ab und strecke die Arme nach vorne. So gleite ich starr und bewegungslos bis zur Mitte des Beckens, betäubt vor Scham, entdeckt worden zu sein. Doch die Frau, die mich eben noch flüchten ließ, schwimmt geradewegs auf mich zu. Ich will ausweichen, mich davonstehlen, aber schon sieht sie mich an und hebt die Hand zum Gruß. Unter Wasser wirken die Bewegungen unendlich verzögert, die Leuchten am Boden tauchen das merkwürdige Treiben der Schwimmenden und Tauchenden, der winkenden Meerjungfrau in ein fahles Licht ... ich sehe ihr nach ... sie stößt sich schwungvoll vom Beckenrand ab, zieht die ganze Bahn durch und atmet nicht ein einziges Mal. Als ich nach dem Geländer greife, um mich aus dem Becken zu ziehen, taucht sie neben mir auf. Sie streift sich die nassen Haare aus dem Gesicht, dann sagt sie: "Ich weiß, wer du bist. Mir macht das nichts aus. Beobachte mich ruhig. So wie ich dich beobachte."

Mit der einen Hand noch an der stählernen Leiter, kippe ich fast ins Becken zurück und suche dabei nach einem harmlosen Satz. "Du tauchst die ganze Bahn", sage ich schließlich, "ohne einmal zu atmen."

"Früher", erklärt sie, "hatte ich Angst vor dem Tauchen. Unter Wasser fürchtete ich mich, von der Welt ganz entfernt zu sein. Dabei ist es nur eine Übung."

Ich lasse mich zurück ins Wasser fallen. Erst schwimmen wir um die Wette, dann tauchen wir ein paar Bahnen. Jedes Mal, wenn ich dabei Luft holen muss, sieht sie mich an und ein Lächeln geht über ihr Gesicht.

Am nächsten Tag sitze ich wieder am Beckenrand. Suche die Umkleiden ab. Halte die Ausgänge der Duschen im Blick. Ein wenig Hoffnung, dass sie heraustritt, um wieder zu tauchen. Zwei Stunden vergehen. Ich verlasse das Bad.


Morgen wird sie wieder da sein. Ich werde an der alten Stelle am Beckenrand sitzen, die Beine ins Wasser halten und dabei Zeitung lesen. Dann wird sie neben mir auftauchen und mich anblinzeln.

"Du warst gestern nicht da", werde ich sagen.

"Ich weiß", wird sie antworten und dabei lachen, "du hast mich vermisst."


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