Für die Autobiografie war das 20. Jahrhundert ein Desaster. Das, was man bisher als Identität verkaufen konnte, löste sich stückweise auf. Plötzlich war das Ich immer ein Anderer. Dann war da noch die Katze Erinnerung, dieses unzugängliche Biest, das immer nur vorbei huschte, ohne dass man es zu greifen bekam. Für die großen Fabulierer, die Nabokovs und Naipauls, waren das indes keine schlechten Neuigkeiten. Saša Stanišić, 1978 im jugoslawischen Višegrad geboren, ist einer ihrer Enkel. Bereits 2006 hat er mit seinem Debüt Wie der Soldat das Grammofon repariert bewiesen, wie wunderbar er Erinnerung und Erfindung verweben kann, die Erzählungen seiner Großeltern und die Erzählung seines Lebens. Mit seiner Groß
ner Großmutter eröffnet er nun auch sein viertes Buch, das den Titel Herkunft trägt.Sie „hat ein Mädchen auf der Straße gesehen“. Es solle keine Angst haben, sie werde es holen, ruft sie ihm vom Balkon aus zu, sie steigt die drei Stockwerke auf Strümpfen herunter, das dauert, dem Alter entsprechend, dem Körper, sie steht auf der Straße, das Mädchen ist fort, sie ruft nach ihr, während Autos bremsen und sie umkurven. „Es ist der 7. März 2018 in Višegrad, Bosnien und Herzegowina“, schließt der Erzähler. „Großmutter ist siebenundachtzig Jahre alt und elf Jahre alt.“ Auch das kann mit der Katze Erinnerung passieren. Sie hat mehrere Leben, manchmal sogar gleichzeitig. Die Großeltern sind auch deswegen die wichtigsten Nebenfiguren des Buches, weil es Stanišić mit James Baldwin hält, der in I Am Not Your Negro schrieb: „Die Geschichte ist nicht die Vergangenheit. Sie ist die Gegenwart. Wir tragen unsere Geschichte in uns. Wir sind unsere Geschichte.“Diese Geschichte beginnt mit dem „ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt.“ Im Fall von Stanišić ist das zunächst: Eine Kindheit voller Erzählungen und eine Jugend als leidenschaftlicher Pionier. Bald aber auch: der Krieg. Kurz nachdem die Vielvölkermannschaft von Roter Stern Belgrad im Mai 1991 unter dem Jubel von Saša, dem bosniakisch-serbischen Vielvölkerspross, den Europapokal der Landesmeister nach Jugoslawien holt, rollt der ethnische Nationalismus gewalttätig durch den Vielvölkerstaat. 1992 gelangt Stanišić mit seiner Familie nach Heidelberg, in den Stadtteil Emmertsgrund, der in den 1970ern nach dem Leitbild „Urbanität durch Dichte“ erbaut worden war und sich bald wie so viele andere Reißbrett-Viertel entwickelte. Der 14-jährige Geflüchtete kommt also ins Migrantenviertel. Die soziale Einrichtung, die sich für die Integration am stärksten einsetzt, ist eine abgerockte Aral-Tankstelle.Doch gerade Treffpunkte braucht es, weil auf den ersten Zufall unserer Biografie, das Irgendwo-geboren-Werden, natürlich nicht nur Orte und Ereignisse folgen, sondern vor allem Menschen. Im Emmertsgrund begegnet Stanišić beispielsweise Dr. Heimat, einem Zahnarzt mit marxistischen Anwandlungen, der Karies auch ohne Krankenkasse behandelt und den unglücklichen Großvater Muhamed zum Angeln an den Neckar einlädt. Und es begegnen ihm seine Freunde aus der Aral-Clique, die vor allem eins verbindet: Sie erzählen gern. Auch von den Kränkungen und Demütigungen, die sie erfahren. „Das Erzählen machte das, was scheiße war, absurder und irgendwie erträglicher“, so der Ich-Erzähler und fügt an: „vielleicht, ich weiß es nicht, ich war selten betroffen“.Denn Stanišić gibt trotz alledem ein Paradebeispiel des „guten Migranten“. Er lernt schnell, steigt durch die deutsche Grammatik (Plusquamperfekt: „Mein Großvater war ein jugoslawischer Partisan gewesen.“; Futur: „Kapitalismus wird sich selbst fressen.“) Er liest Kafka und Fallada. Schreibt „so Gedichte“. Spielt Bach auf der Gitarre und übt Headbangen. Und schließt manchmal einfach die Augen, „um mich zu erfinden.“ Aus all dem wird irgendwann Literatur. Mit ihr im Gepäck schrappt er nur haarscharf am Schicksal seiner Eltern vorbei, der Ausweisung, weil eine Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde seinen Berufswunsch durchwinkt: Schriftsteller werden. Wie weise ihr Entscheid doch war: Für Vor dem Fest (2014) hat Stanišić den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen, auch der Erzählband Fallensteller (2016) fand landauf, landab nur Anerkennung.In einem Punkt ist Herkunft natürlich ein bisschen komplizierter. Das Geschichten-Erfinden, dem der großartige Erzähler bisher stets gehuldigt hat, ist als autobiografische Technik, nun ja, irgendwie umstritten. Doch Stanišić interessiert das nur am Rande; er zelebriert es, durchwebt seine Erinnerungsschnipsel mit den magischen Anekdoten seiner Großeltern und mit Gegenwartsbezügen, dem Schreibtisch-Status-quo gewissermaßen, in dem sein Sohn schon mal neben ihm sitzt, weil in der Kita Fälle von Würmern aufgetreten sind. Das Ergebnis ist im wahrsten Sinne fantastisch: Man lässt sich zunächst einmal auf das ein, was Phillipe Lejeune den „autobiografischen Pakt“ genannt hat, mit dem der Autor dem wohlwollenden Leser verspricht, „sein Leben, und nichts als sein Leben“ zu erzählen. Diesen Pakt haben zuletzt Autoren wie Thomas Melle, Benjamin von Stuckrad-Barre und der Godfather aller Autobiografen, Karl Ove Knausgård, erfolgreich geschlossen, indem sie ihre radikalen Autobiografien als wahrhaftige Sick Lit erzählten. Doch Stanišić macht es anders: Er entlässt uns aus dem Pakt, indem er ganz unmissverständlich benennt, dass seine Erinnerung Erzählung ist, von Fiktionen durchsetzt und selbst Fiktion. In diesem Sinne ist also nicht nur Fiktion das, was geschehen könnte, sondern auch Biografie das, was hätte geschehen können.Im DrachenhortAuf die Spitze treibt er diesen Gedanken im finale furioso des Buchs, das allein das Lesen lohnt. Auf den Epilog, der im Altersheim von Großmutter Kristina endet, folgt nämlich noch eine 50-seitige Geschichte mit dem Titel Der Drachenhort. Sie funktioniert nach dem Prinzip des Spielbuchs, der analogen Entsprechung dessen, was heute als Hyperfiction firmiert. Der Leser darf also Saša Stanišić spielen. Er wird selbst zur handelnden Person, wird angesprochen und kann über den Fortgang der Geschichte entscheiden. Die Wahlmöglichkeiten mit entsprechenden Querverweisen hat der Autor vorbereitet. So begibt man sich auf die Reise zur Großmutter, und mit ihr, wenn man sie denn an dem Gärtner vorbei aus dem Altersheim schmuggeln kann, auf die Reise zum Vijarac, einem Berg in der Nähe ihres Kindheitsdorfs Oskoruša. Bereits 2009, das wissen wir aus dem Haupttext, hat der Autor mit seiner Großmutter diesen magischen Ort besucht, wo auf fast jedem Grabstein der Name Stanišić steht, und dort eine Inventur vorgenommen, von der Landschaft, den Personen, vor allem aber von den Geschichten. Eine dieser Geschichten ist eine Art Familien-Schöpfungsgeschichte: Drei montenegrinische Brüder, auf die ein Kopfgeld ausgesetzt war, mussten aus der Stadt fliehen. Zwei waren zu Fuß unterwegs, einer als Drache, um die Landschaft auszukundschaften und einen Ort für einen Neuanfang zu suchen. Die drei Brüder hießen Stanišić. Der Ort, den sie fanden, hieß Oskoruša. Und in diesem Oskoruša, bis heute ein Drachenhort, vermutet die Großmutter immer noch ihren Pero, den Großvater des Autors, der für sie noch nicht gestorben ist oder jedes Mal aufs Neue stirbt, wenn ihr, der Dementen, jemand sagt, dass er schon lange tot sei. Stanišić, der einst im Emmertsgrund das Rollenspiel „Das schwarze Auge“ spielte, zeigt, was er am besten kann: wild, präzise und humorvoll fabulieren. Vielleicht ist das Prinzip des Spielbuchs sogar ein Lösungsansatz für die Selbstzweifel, die dem Text immanent sind. Denn auch Stanišić geht es um Authentizität. Das „Betrügerische der Erinnerung“ hat er satt, „und das Betrügerische der Fiktion allmählich auch“. Doch vielleicht sollte man die flüchtige Katze Erinnerung auch einfach Katze sein lassen, unzugänglich, nur kurz an einem Ort verweilend. Vielleicht reicht es manchmal, von ihr zu erzählen.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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