Für viele aus meiner Generation sind die unmittelbaren Ereignisse des politischen Aufbruchs vom Herbst 1989 in der DDR eher etwas aus Erzählungen der Älteren. Ich war zwölf, als die Zahl der Demonstrationen für demokratische Reformen von Tag zu Tag wuchs; als eine ganze Gesellschaft aufwachte und darüber diskutierte, wie es weitergehen soll. Natürlich hatte auch ich eine Ahnung davon, diese friedliche Revolution saß ja mit am Abendbrot-Tisch, alle redeten darüber, diese politische Elektrisierung im Alltag war für jede und jeden zu spüren.
Wirklich bewusst erlebt hat meine Generation eher die Zeit nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Die politische Lust auf etwas Neues, die fröhliche Neugier darüber, was offene Kritik, Demonstrationen und kritische Debatten alles in Bewegung setzen können, war da längst anderen Gedanken gewichen: Sorge um Arbeitsplätze der Eltern, das Gefühl mangelnder Sicherheit darüber, was nun kommt. Hatten die Älteren nicht von einem ganz anderen Aufbruch 1989 erzählt?
Im Rückblick gibt es zwei größere Erzählungen über die „Wiedervereinigung“: Die eine behauptet, es sei den Menschen in der DDR schon im Herbst 1989 bloß um D-Mark, Reisefreiheit und schwarz-rot-goldenen Einheitsdrang gegangen. Ein Blick, der das Ende der damaligen Geschichte für das Ganze nimmt und so den ganzen Eigensinn dieses Aufbruchs in der DDR in den Schatten verdrängt. Die andere Erzählung rückt kritisch die Folgen einer Einheitspolitik ins Zentrum – Stichwort: Treuhandanstalt, die einen Nachbau West verfolgte, der viele im Osten in soziale Nöte stürzte.
Unser Rückblick verändert sich
Wir haben aufgrund der Einschränkungen, die uns die Corona-Pandemie abverlangt, in diesem Herbst vergleichsweise wenig über das Geschehen vor 30 Jahren gesprochen. Dass wegen des Infektionsschutzes keine großen „Einheitsfeiern“ stattfinden konnten, entspricht aber vielleicht, wenn auch unfreiwillig, einer langsamen Veränderung: Unser Rückblick verändert sich. Es werden neue Fragen gestellt, es wird weniger Schwarz-Weiß gemalt, man hört heute mehr auf Zwischentöne.
Darin liegen, finde ich, gleich mehrere Chancen. Eine besteht darin, den damaligen Zweifeln und der Distanziertheit gegenüber dem „Drang nach Westen“ mehr Anerkennung zu verschaffen. Viele haben damals gegen die Zustände in der DDR protestiert und wollten deshalb noch lange nicht die Verhältnisse in der BRD. Aus Zwischentönen erfährt man auch, was es mit Menschen macht, wenn Hoffnungen binnen weniger Monate unter die Räder der Geschichte kommen, deren Zug das Gleis gewechselt hat. Was haben sich jene, die damals ein paar Jahre älter waren als ich, erträumt? Und was bedeutet es selbst für meine Generation, also die der kurz nach der Wende von 1989 erwachsen werdenden Kinder, dass Träume zerplatzten? Man sollte das schon verstehen wollen.
Dieser Tage jährt sich die große Demonstration auf dem Alexanderplatz, zu der am 4. November 1989 Hunderttausende strömten. Im offiziellen Geschichtsbild hat der Tag keinen besonders großen Platz, „Stiefkind der Erinnerung“ hat das einmal jemand genannt. Und richtig, es hatte ja zuvor entscheidendere Demonstrationen gegeben, etwa in Leipzig. Man kann auch nicht darüber hinwegsehen, dass an diesem 4. November 1989 etwas gefordert wurde, dass in der Bevölkerung von Tag zu Tag weniger Rückhalt fand: eine reformierte DDR.
Aber gerade deshalb ist es für mich so ein zentraler Tag des Aufbruches, weil man an ihm schon die Widersprüche sieht, die Schwierigkeiten, das, was nicht mehr oder noch nicht zusammenpasste. Fünf Tage später fiel die Mauer, aber wer konnte das ahnen? Das verleiht dem 4. November 1989 so einen besonderen Charakter: Es wurde noch einmal ausgesprochen, was schon bald für Jahre nicht mehr aussprechbar war: dass ein demokratischer, ökologischer, freiheitlicher Sozialismus möglich sei, einer, der die unterschiedlichsten Meinungen wie die Luft zum Atmen braucht, den Dialog und das offene Sprechen.
„Als habe einer die Fenster aufgestoßen“
„So viel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander geredet worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit so viel Zorn und Trauer und mit so viel Hoffnung“, so hat es an jenem Tag der großen Alexanderplatz-Demonstration die Schriftstellerin Christa Wolf formuliert. Und Stefan Heym sagte damals seinen berühmten Satz: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.“
Der große Theatermacher Heiner Müller hat am 4. November 1989 stellvertretend einen „Aufruf der Initiative für unabhängige Gewerkschaften“ verlesen: „Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken.“ Dafür ist er auf dem Alexanderplatz noch ausgebuht worden. Ein paar Monate später hätte ihm niemand mehr widersprochen.
Die Linken sollten dem 4. November 1989 mehr rückblickende Aufmerksamkeit schenken. Gerade weil es kein Datum kratzerfreier Geschichte ist, gerade weil diese Demonstration der Demokratie auch viele Widersprüche in sich trug. Und auch deshalb, weil darin etwas Unabgegoltenes liegt, eine immer noch bestehende Aufforderung, etwas, das uns immer noch antreibt.
Im Westen schrieb damals jemand in der linken Tageszeitung, die Progressiven in der BRD könnten „jetzt neidvoll auf die Möglichkeiten blicken, die es der östlichen Linken nun erlauben, die ›Civil Society‹, vielleicht sogar eine neue, zukunftsträchtige, demokratische ökologische und sozialistische Gesellschaftsform zu entwickeln“. 30 Jahre danach liegt es in unserer gemeinsamen Hand, ob aus dem „vielleicht“ ein „wirklich“ wird.
Kommentare 10
1989 wachten die letzten auf.
und das war leider mehr als die mehrheit der verbliebenen.
und die linken von ost und west vereint etwas kolossales:
das über-große hoffen, das wichtiger grundlagen entbehrt...
Soviel Hoffnung, soviel Beteiligung der Menschen, so viele Möglichkeiten! – Was ist damit geschehen? Durch die von West-Deutschland, der Kohl-Regierung und anderen politischen und wirtschaftlichen Akteuren angeheizte „Wir sind ein Volk“-Demagogie schon nach wenigen Tagen (!) platt gemacht! Dabei war mit „Wir sind ein Volk“ freilich nicht gemeint, wir sollen uns wieder problemlos sehen und über die Zukunft sprechen dürfen. Gemeint war: „Alles zu unseren Bedingungen und zum Status Quo der BRD.“ Das war’s. Ende der möglicherweise vielversprechenden Entwicklung. Ende der Diskussion. Ende des freien Denkens über eine bessere Gesellschaftsordnung. Statt dessen Existenzängste, Identitätsverlust, Belehrungen aus dem arrogant auftretenden Westen. Siegermentalität. Bis heute.
Wir stehen gerade wieder vor einer historischen Chance. Es könnte die Wende, Reform, Revolution zu einer wirklich demokratischen, ökologischen, friedvollen (auch für die Mitgeschöpfe, sprich Tiere), solidarischen, wenig geld- und statusgeilen Gesellschaft werden! Nutzen wir (=“Wir sind das Volk“) die Chance?
Stattdessen nutzen die Eliten die Situation, die sie selber so gern dramatisieren, um ihre eigene Agenda durchzudrücken.
https://www.weforum.org/great-reset/
Das „World Economic Forum“, Stichwort: Davos, die Lobbyorganisation der transnationalen Firmen (neudeutsch: companies), schläft dagegen nicht … Ausgerechnet diejenigen, die unsere Völker in diese Situation gebracht haben, in der wir heute sind, sollen nun die Retter der Welt sein?
Es ist eine Elend, das mit ansehen zu müssen. Dasselbe Volk, das vor 30 Jahren auf die Straße ging, um die Bürokratie der DDR endlich wach zu schütteln und eine Reform des Sozialismus zu fordern, schließt sich aus Angst vor einem Virus freiwillig zu Hause ein.
......die mehrheit der verbliebenen.
....und für die dann-ige entstandene Gesamt-Mehrheit es von Vorne wieder erneut los ging....
...wichtiger grundlagen entbehrend....
Dem WIRKLICHEN Aufwachen!
wobei ich den zu-spät-aufgewachten nicht die schuld gebe.
partei-/ klientel-/personen-diktaturen ist es eingeschrieben:
sie verhindern durch monopol-propaganda/staats-sicherheits-dienste
die oppositions-ansätze auch in ihren verstecken, so daß diese
nicht zum diskurs über richtige wege kommen und personell-schwach
bleiben. daher sind revolutionen (als lokomotiven der geschichte)
in erster linie dampf-erzeuger, mit drohenden rückwärts-gängen.
die ideen-produktion gegen ende der diktatur-periode
hat daher systemische schwächen, bei immensen träumen:
"die schönsten träume von freiheit werden ja im kerker geträumt."
(schiller)
s.o.
Die Frage nach Schuld bzw. Schuldigen würde auch viel zu vordergründig-kurz sein/greifen!
Nach Hinter-Gründen/Ur-Sachen usw.....
...wäre/würde.....
Stimme Ihnen voll zu.
Das war meine hoffnungsvollste Zeit.
Diese Demo. Runde Tische. Basisdemokratie. Schnell war der Tisch weg. Kapitalismus aller Orten.
Man erklärte uns das Grundgesetz. Bei mir kam wieder Hoffnung auf. Da muss doch was gehen für das Volk.
Aber jetzt mit den Massnahmen ist wieder alles in Gefahr, was wie Demokratie aussieht.
Und Die Linke schweigt.
die demo am 4. november 1989 war der "point of no return" - zur demokratisierung der ddr
... und ich bin eine Wessi!
Ja, die 'Linke', auch so ein Thema!
LG
Und Stefan Heym sagte damals auch seinen berühmten Satz, dass wir den aufrechten Gang erst wiedererlernen müssten. Anschließend wurde der ehemals gefeierte Regimekritiker als Altkommunist entsorgt. Und den aufrechten Gang? Naja, heute buckeln wir vor der Corona-Panik, der Arbeitsagentur, der Staatsräson, ... und lassen uns auch noch die neuen Freiheiten des Grundgesetzes unterm A.... wegziehen. Bloß keinen Widerspruch gegen die Staatsreligion riskieren! Kenn ich.
Wie hieß es damals noch mal: Jedes Volk hat die Regierung, die zu ihm passt!