Im Stillen hat die Regierung vielleicht gehofft, dass die Gewerkschaftsproteste, an denen in Warschau gerade 100.000 Menschen teilnahmen, nicht so friedlich verlaufen würden, wie das der Fall war. Dann hätte man von dort verkündeten Forderungen ablenken und die Gewerkschaften in die gewohnte Ecke stellen können: Störer der öffentlichen Ordnung, gewaltbereite Handlanger der Opposition, besonders der Rechtskonservativen um Jaroslaw Kaczynski, wirtschaftlich unverantwortlich, nur auf eigene Pfründe bedacht.
Doch die Proteste verliefen friedlich, drei Tage lang zogen Zehntausende ohne Kaczynski-Poster durch die Hauptstadt und klopften vergeblich an ministeriale Pforten. Anhänger der drei großen Gewerkschaften, darunter der Solidarnosc, wehrten sich g
ten sich gegen eine im Juli über ihre Köpfe hinweg beschlossene Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Beschäftigte in kleineren Betrieben besonders trifft. Sie wollten außerdem die Auswüchse von Werkverträgen eindämmen, die als „Müllverträge“ reguläre Arbeitsverhältnisse verdrängen, und verlangten einen Mindestlohn, der nicht länger bei umgerechnet 400 Euro liegen, sondern mindestens auf die Hälfte des Durchschnittslohns (900 Euro) steigen soll. Und sie ließen keinen Zweifel, die Rente mit 67 müsse wieder gekippt werden.Massive EinschnitteDieses Aufbegehren kommt aus Sicht der Regierung von Premier Donald Tusk denkbar ungünstig. Seine liberal-konservative Bürgerplattform (PO) wird bei Umfragen mit weniger als 30 Prozent und hinter der Kaczynski-Partei Recht und Gerechtigkeit gelistet. Tusks Koalitionär, die Bauernpartei PSL, schrumpft unter der Fünf-Prozent-Marke vor sich hin. Ungeachtet dessen braucht der Regierungschef parlamentarischen Rückhalt, muss er doch den Haushalt anpassen und höhere Kredite aufnehmen. Dazu hat der Sejm vorsichtshalber beschlossen, die gesetzliche Schuldenbremse auszusetzen. Diese greift, sobald die Staatsschulden bei mehr als 55 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung liegen. Derzeit erreicht die Verschuldung diesen Richtwert, weil die Wirtschaft lahmt und die Arbeitslosigkeit im Sommer auf 13 Prozent gestiegen ist.Ausgerechnet in dieser Lage hat der Premierminister Anfang September angekündigt, es müsse massive Einschnitte bei der seit 1999 obligatorischen privaten Rentenversicherung geben. Bislang fließt ein Teil der Rentenbeiträge an Rentenfondsgesellschaften, die das Geld in Aktien oder polnische Staatspapiere anlegen. Die laufenden Rentenzahlungen mussten bisher trotzdem aus staatlichen Mitteln gestützt werden. Das geschieht durch Kredite, die bisher zu einem erheblichen Teil bei den Gesellschaften der Privatrentenversicherung aufgenommen wurden. Die Pläne der Regierung sehen nun aber vor, dass die Bürger künftig freiwillig entscheiden, ob sie anteilig in die private Rentenversicherung einzahlen. Unterlassen sie das – und von einer Mehrheit ist genau dies anzunehmen –, wird für sie nur noch das staatliche System aufkommen. Renteneinbußen werden die Folge sein.Neuwahlen? Nein danke!Längst ist die gesellschaftliche Stimmung nicht mehr so eindeutig pro Markt getönt wie noch bei Einführung des Systems Anfang 1999. Zu diesem Umschwung hat beigetragen, dass bislang nicht geregelt ist, wie die Auszahlung dieser privaten Altersvorsorge künftig verläuft. Die Kapitalfonds wollen die Ausschüttung zeitlich begrenzen. Folglich ist die Privatversicherung heute umstrittener denn je. Donald Tusk, der einen kapitalgedeckten Rentenanteil einst vehement verteidigte, bringt nun durch seine Reform nicht allein die Wirtschaftsverbände, sondern auch Teile der eigenen Partei gegen sich auf.Und das beschwört Risiken herauf, denn die Regierungsmehrheit liegt nach etlichen Parteiaustritten bei der PO noch bei einem Mandat. Bislang konnte Tusk auf den einen oder anderen Abgeordneten der liberalen Partei Ruch Palikota zählen, wenn Regierungsvorhaben abzusegnen waren. Zudem droht unabhängigen Abgeordneten bei vorgezogenen Neuwahlen eine ungewisse Zukunft – das diszipliniert. So hat denn auch Regierungssprecher Pawel Gras eine Erweiterung der Koalition etwa um die Mitte-Links-Partei SLD, die in Umfragen Zugewinne verzeichnet, oder Ruch Palikota ausgeschlossen. Vorgezogene Neuwahlen sind augenblicklich unwahrscheinlich.Dennoch dürfte vor allem Jaroslaw Gowin der Regierung Kopfzerbrechen bereiten. Der Ex-Justizminister, bis vor Kurzem Sprecher des konservativen Flügels der PO, hat die Partei wegen der Reform verlassen. Bereits als Minister hatte Gowin mitunter gegen das Kabinett votiert, etwa bei dessen Gesetzesvorhaben, homosexuelle Paare in Polen nicht länger zu reglementieren. Gowin will sich nun an einer Parteineugründung versuchen und kleinere, nicht im Parlament präsente Parteien unter einem neuen Dach zusammenführen. Umfragen zufolge könnte eine Gowin-Partei mit sieben bis acht Prozent rechnen.Nicht ausgeschlossen wäre zudem ein Paktieren Gowins mit der Kaczynski-Partei, obgleich es in Wirtschaftsfragen wenige Schnittmengen gibt. Dafür umso mehr bei gesellschaftspolitischen Themen, die in der polnischen Öffentlichkeit stets leidenschaftlich diskutiert werden: Rolle und Finanzen der Kirche, Förderung der künstlichen In-vitro-Befruchtung oder der Umgang mit homosexuellen Partnerschaften.Neoliberaler GeistIn Polen hatte sich nach 1990 zunächst ein neoliberaler Geist etabliert, der bislang sozialreformerische Ansätze verwarf. Unter dem Eindruck dieser Stimmung wurde vor fast 15 Jahren die verpflichtende Privatrente eingeführt, begleitet von abstrusen, heute längst ad absurdum geführten Versprechen von einer „Rente unter Palmen“. Mit der von 2001 bis 2005 regierenden SLD wagte das Mitte-Links-Lager keine Korrektur. Die jahrelange Hegemonie wirtschaftsliberaler Medien in Polen hätte einen Aufschrei produziert, als würde das Abendland untergehen.Die regierende Bürgerplattform versucht inzwischen, bei Wirtschaftsfragen mehr pragmatisch und weniger ideologisch zu agieren. Dennoch gilt Donald Tusk auch durch sein Lavieren vielen mehr denn je als Kopie Angela Merkels. Intellektuelle und ehemalige liberale Reformer formulieren eine oft drastische Kritik wegen ausbleibender Sozialreformen. Die in linken und feministischen Kreisen beliebte ehemalige Vizepräsidentin des Sejm, Wanda Nowicka, testet seit gerade, ob eine Partei links der SLD eine Chance hätte. Die rechtskonservative Kaczynski-Partei ist heutzutage in Wirtschaftsfragen alles andere als neoliberal, zählen doch zu ihrem Anhang besonders die Verlierer der Transformation. Daher lehnt sie eine Rente mit 67 ab, setzt bei der Privatrente auf Freiwilligkeit und will den Spitzensteuersatz von derzeit 30 auf 39 Prozent anheben.Auch Ruch Palikota versucht sich an einer Erneuerung und könnte bei den Europawahlen im nächsten Jahr mit Abtrünnigen aus der SLD eine gemeinsame Liste aufstellen, die das Label Europa plus tragen soll. Angesichts der schwelenden Regierungskrise bringen Kommentatoren bereits Alternativen zum angeschlagenen Tusk ins Gespräch. Etwa den ehemaligen Premier und Ex-Vorsitzenden des EU-Parlamentes Jerzy Buzek. Wahrscheinlicher ist aber ein innerparteilicher Kampf zwischen Tusk und Ex-Fraktionschef Grzegorz Schetyna, der in der Partei starken Zuspruch findet. Tusk hofft offenbar, dank der PrivatrentenReform an finanziellem Spielraum zu gewinnen, was 2014 die Stimmung zu seinen Gunsten wenden könnte. Zusätzlich hat die Regierung ein Investitionsprogramm in Höhe von zehn Milliarden Euro aufgelegt, das ab Januar greifen und ein Wachstum von drei Prozent in den ersten beiden Quartalen 2014 ermöglichen soll. Wenn das gelingt, könnte es Donald Tusk als Regierungschef bis zum turnusmäßigen Wahltermin 2015 schaffen.