Der Freitag: Bereits in Ihrem Debüt, „Mit der Faust in der Tasche“, entfalten Sie einen Katalog an Krankheiten. Das Thema zieht sich so konsequent durch Ihr Werk, man ist versucht, darin eine Metapher zu sehen. Sind Ihre Filme Versuche der Diagnose einer spezifisch italienischen Malaise?
Marco Bellocchio: Es lässt sich nicht bestreiten, dass diese Frage mich seit langer Zeit beschäftigt. Aber im Resultat erscheint das planvoller, als es tatsächlich während des Entstehungsprozesses eines Films ist. Meine Filme sollen keine Botschaften verkünden, oder zumindest sollen sie es heute nicht mehr. Ich hoffe, sie sind keine Thesenfilme. Das ist nicht mein vorrangiges Erzählinteresse. Ich warte vielmehr erst einmal ab, was für Bilder und Ideen ent
interesse. Ich warte vielmehr erst einmal ab, was für Bilder und Ideen entstehen, wenn ich mich mit einem Thema beschäftige. Natürlich verstehe ich, wenn man meinen neuen Film Bella Addormentata über eine Komapatientin, deren Vater nach 17 Jahren die Maschinen abstellen will, als Allegorie auf ein Italien interpretiert, das im Dornröschenschlaf liegt. Das ist eine legitime Lesart, aber nicht die einzige.Immerhin taucht im Film ein Psychiater auf, den die Mitglieder des Senats konsultieren, damit er ihnen bei der Entscheidung hilft, ob sie gegen oder für das Sterbehilfegesetz stimmen. Eine hinreißend surreale Idee. Ich wollte, dass der Film auch eine tragisch-groteske Seite hat. Ein derart ernstes Thema braucht solche Registerwechsel. Tatsächlich waren einige Kritiker in Italien überrascht, dass ich die politische Kaste nicht als durchweg korrupt und verkommen darstelle. Ein Filmemacher muss nicht den Ehrgeiz haben, immer auf der richtigen Seite zu stehen. Ich glaube, ihr Beruf lässt viele von ihnen seelisch verkümmern. Ständig sind sie mit der Frage der eigenen Legitimation konfrontiert. Gleichzeitig kann man bei ihnen eine geradezu pathologische Unfähigkeit feststellen, ihren Platz zu räumen.Wir können also weiter der Frage nach der italienischen Krankheit nachgehen? Dazu muss ich aber präzisieren, worin meine Auseinandersetzung mit dem Thema besteht: Es sind vor allem Geisteskrankheiten, die in meinen Filmen als thematische Konstante auftauchen. Mein Interesse rührt auch aus familiären Erfahrungen her, einer persönlichen Betroffenheit. Also kann ich das nicht mit wissenschaftlicher, klinischer Genauigkeit behandeln. Die Darstellung der Epilepsie in Mit der Faust in der Tasche etwa ist nicht realistisch. Der Naturalismus spielt in meinem Kino keine Rolle. Also befinden wir uns tatsächlich in der Sphäre der Metaphern. In Italien steht man da ohnehin vor einem Dilemma. Es gibt die eine Seite, die christliche Betrachtungsweise. Für sie manifestiert sich in der Geisteskrankheit das Übel, die Erbsünde. Für die andere Seite existiert sie nicht. Als Filmemacher kann man da keine passive Haltung einnehmen. Tatsächlich handeln meine Filme ja vom Kampf gegen die selbstzerstörerischen Aspekte der Krankheit. Mit ihnen darf man sich nicht abfinden, man kann aber auch nicht immer über sie triumphieren: Es gibt viele Selbstmorde in meinen Filmen.Allerdings interessieren Sie sich brennend für die Möglichkeiten der Therapie. Ich denke beispielsweise an den Dokumentarfilm „Matti da Slegare“ („Irre, die loszubinden sind“), den Sie 1975 mit Sandro Petraglia und Stefano Rulli gedreht haben. Da reflektieren wir vor allem die politischen und sozialen Aspekte. Damals gab es ungemein noble und idealistische Anstrengungen, Geisteskranke in die Gesellschaft zu integrieren. Man experimentierte damit, die psychiatrischen Kliniken zu öffnen. Der Grundgedanke war, soziale Ursachen zu finden. Man sagte den Patienten: „Du bist verrückt, weil du arm bist und ausgebeutet wirst.“ Aber nur weil man genug Geld in der Brieftasche hat, wird man nicht automatisch gesund. Schizophrenie lässt sich nicht allein durch mehr Wohlstand heilen. Sagt Ihnen der Name Franco Basaglia etwas?Ja, dank des Kinos. Seine Psychiatriereform spielt eine wichtige Rolle im Film „Unsere besten Jahre“, für den Petraglia und Rulli das Drehbuch schrieben. Und voriges Jahr kam bei uns „Wir schaffen das schon“ heraus, der die Anwendung des Gesetzes „180“ zur Wiedereingliederung schildert, das auf ihn zurückgeht. Das war ein, sagen wir mal, sehr kommunikatives Konzept. Für Basaglia existiert die Krankheit nicht. Er lenkte das Augenmerk auf die unmenschliche Behandlung, die die Patienten bis dahin erleiden mussten. Aber die Schlussfolgerung, alle psychiatrischen Anstalten zu schließen, war falsch. Seine Reformen waren notwendig, aber kein Allheilmittel.In Ihren Filmen gewinnt Ihr Interesse an Psychologie auch eine gewissermaßen architektonische Dimension. Ich bin mal gespannt, wie Sie da eine Verbindung herstellen wollen!Ihre Filme beginnen auffallend oft mit dem Blick aus einem Fenster. Das gilt für „Der Prinz von Homburg“, „Teufel im Leib“, „Buongiorno, notte“ und viele andere. Markieren die Fenster nicht eine Schwelle zwischen der Innenwelt der Figuren und der Außenwelt? Ich stimme Ihnen zu, darin zeigt sich eine konstante Spannung zwischen Unbewusstem und Bewusstem, zwischen Schlafen und Wachen. Entscheidend ist dabei, dass es meist subjektive Blicke von innen nach außen sind. Die Objektivität hat keinen Platz im Kino. Die Außenwelt bedeutet Freiheit, aber sie birgt auch Risiken. In Der Sprung ins Leere und in Bella Addormentata ist die Versuchung groß, aus einem Fenster zu springen. Viele meiner Filme handeln von der erstickenden Enge der Familie; das Heim bedeutet keine Geborgenheit. Da ist die Verlockung groß, nach Fluchtwegen zu suchen.