Als Kind, so berichtete der Künstler Tomi Ungerer einmal in einem Interview, besuchte er an Regentagen gerne den Isenheimer Altar in seiner elsässischen Heimatstadt Colmar. Der Eintritt ins Musée Unterlinden war zu dieser Zeit frei, jeder hatte Zugang zu dem weltbekannten Werk, statt wartend an der Bushaltestelle nass zu werden, flüchtete er sich in das schützende Museum.
Der verstörend schöne Altar des Künstlers Matthias Grünewald (und des Bildschnitzers Nikolaus von Hagenau), entstanden 1512 – 1516, zeigt auf zahlreichen aufklappbaren Tafeln das Leiden Jesu, seine Kreuzigung und Auferstehung, aber auch bildnerische Fantasien, die wie im Drogenrausch entstanden zu sein scheinen. Psychedelisch, fast modern und mit den Wahnvorstellungen spie
ungen spielend, die zur Entstehungszeit durch den versehentlichen Verzehr von „Mutterkorn“ entstanden. Das sakrale Meisterwerk oszilliert zwischen weltlichem Leid und göttlichem Erlösungsversprechen, spielt mit der Angst vor dem Tod. Es macht zu seiner Zeit pseudotröstende Angebote. Tomi Ungerer lehnt sie ab und trifft damit eine Lebensentscheidung.Geprägt von BrüchenDas Ergebnis dieser Entscheidung führt uns zwei Jahre nach Ungerers Tod eine Ausstellung mit dem Untertitel It’s All About Freedom in der Sammlung Falckenberg in Hamburg vor. Auf drei Stockwerken werden über 400 Exponate präsentiert, die durch ein Künstlerleben führen, das geprägt ist von Brüchen und Neuanfängen. Kinderzeichnungen, Grafiken, Objektkunst, Werke aus privaten Sammlungen zeigen den ungerschen Fantasiekosmos in all seiner Fülle und Prägnanz.Die Ausstellung, die in weiten Teilen von Tomi Ungerers Tochter Aria kuratiert wurde, geht chronologisch vor, sie beginnt mit seinen Kinder-und Jugendzeichnungen ab den 1930er Jahren. Viele davon wurden recht spät in einem Karton in seiner Straßburger Wohnung gefunden. Zu sehen sind unter anderem, in comichaftem Stil gehalten, Bilder vom Einmarsch deutscher Truppen in seine elsässische Heimat. Skelette thematisieren Tod und Todesangst. Ein Motiv, das sich wie ein roter Faden auch durch spätere Arbeiten zieht.Vor 90 Jahren in Straßburg als Sohn einer kunstbeflissenen Mutter und eines künstlerisch hochbegabten Uhrmachers geboren, beginnt Ungerer schon früh den Klammergriff des Protestantismus durch Zeichnen und kreatives Herumspinnen zu lösen. Kunst als Befreiung und Ausweg. Er entscheidet sich für die reale Welt, weil er eben begreift, dass man Einschränkungen in der persönlichen Entfaltung eigentlich nur dann entkommen kann, wenn man geht, sich entfernt von Borniertheiten und einem einschränkenden Dogmatismus. Früh nimmt er sich vor, genau hinzuschauen und, mit den Mitteln der Kunst, eine fantasievolle Gegenwelt zu kreieren. Aber reicht das? Wie soll man auch physisch herauskommen, aus dem kleinen Ort in der Mitte Europas, dessen künstlerisches Kernangebot, „Der Altar“, derart krass und groß ist. Wie sich befreien, aus der Region zwischen zwei Ländern, deren Identität historisch von Unsicherheit und Zweisprachigkeit geprägt wurde, die geradezu durchgerüttelt wurde, vom Nationalsozialismus? Wo und wie kann der Weg in die persönliche Freiheit beginnen? Was ist überhaupt „Freiheit“ für Tomi Ungerer?Seine Biografie ist geprägt vom Loslassen, von Aufbrüchen und vom Protest gegen etablierte Konstrukte und Strukturen. Wohnorte, gar Kontinente werden gewechselt, Ehefrauen werden ausgetauscht und das Leben auf dem Land gegen das in der Stadt. Kurze dokumentarische Filme, die ebenfalls in Hamburg gezeigt werden, illustrieren diese Seite seiner Persönlichkeit. Gründe für seine innere Unruhe sind sicher sein rebellisches, unstetes Naturell, aber auch Verlusterfahrungen (sein Vater stirbt, als Ungerer drei Jahre alt ist) und das Gefühl, etwas anderes zu sein und sein zu wollen. Frei eben, und doch auf der Suche nach Sicherheit und dem vollkommenen Glück. Vielleicht ein Widerspruch in sich, aber keiner, an dem Ungerer zerbricht.Ende der 50er Jahre werden die USA zu seinem Sehnsuchtsziel. Lediglich ausgestattet mit seiner künstlerischen Begabung und völlig abgebrannt, wagt er es, nach einem nicht bestandenen Abitur, einer kurzen Zeit in der Fremdenlegion und einigen Monaten an der Straßburger École Municipale des Arts Décoratifs, nach New York zu ziehen und dort seinen Karriereweg zu gehen, die eigene Kraft und Zuversicht nutzend. Er lässt Landschaften und Menschen hinter sich, um furchtlos durchzubrechen. Später sagt er einmal: „Kenne die Angst, um sie zu zähmen.“ Er zähmt sie durch das Umarmen des Fremden.New York ist ihm das Versprechen, dass Selbstverwirklichung im wortwörtlichen Sinne möglich ist. Als Illustrator schnell erfolgreich, nimmt er sich heraus, seine persönlichen Freiheitsgrenzen auszuloten. Der größte Abschnitt der Ausstellung ist dieser Zeit gewidmet. Seine ironisch-bissigen Beobachtungen in der New Yorker „High Society“, zu der er, weil zu Geld und Ansehen gekommen, plötzlich Zugang erhält, schlagen sich in zahlreichen Blättern nieder. Trotzdem ist es für ihn zunächst beflügelnd, in einem Land zu sein, das ihn so sein lässt, wie er nun mal ist. Seine Freiheit, so empfindet er es anfangs, gründet sich auf der Tatsache, dass dort, in diesem Land, einmal gekämpft wurde, für Gleichheit, für die unbegrenzten Möglichkeiten.Der Rassismus und die daraus resultierende Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren verdunkeln dieses Bild. Er beginnt daher, auch politische Plakate zu gestalten. In der Werkschau ist beispielsweise seine ikonische Zeichnung Apocalypse (1970) zu sehen, auf der ein reitender Skelett-Cowboy jegliche Westernromantik konterkariert.In seinen Kinderbüchern aus dieser Zeit wie Die drei Räuber (1961) oder Kein Kuss für Mutter (1973) geht Ungerer davon aus, dass eine Eltern-Kind-Beziehung nur gelingen kann, wenn sie auf gegenseitigem Respekt beruht, wenn um Gerechtigkeit gerungen wird. Auf Augenhöhe. Eine Forderung, die die 68er-Generation in Abgrenzung zu ihren Nazi-Eltern ja auch konkret umsetzen wollte, als die ersten Kinderläden und neue Erziehungstheorien entstanden. Hier zeigt sich, was ihn in seiner Arbeit unterscheidet von dem moralisierenden Ton konventioneller Kinderliteratur. Die Originalzeichnungen zu seinen Weltbestsellern sind in der Ausstellung zu sehen.„Was du nicht willst, was man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu“, diese Verkürzung von Kants „Kategorischem Imperativ“ zieht sich durch Ungerers wachsendes Werk, auch in der Zeit, als er beginnt, neben dem Schreiben für die Kleinen und dem bis heute besonders populären Klassiker Das große Liederbuch (1975) seine sexuellen Fantasien in Fornicon (ebenfalls von 1975) und Eroticon (1971) zu bebildern.Ein Skandal in den USA übrigens, Eltern und Verlag bringen beide Seiten des Künstlers nicht zusammen, obwohl er stets darauf achtet, wertschätzend und humorvoll zu bleiben in seinen Darstellungen. Dieser Eklat hat zur Folge, dass er mit seiner Familie fluchtartig nach Kanada auf einen Bauernhof zieht. Auch aus dieser Phase sind Originale in der Ausstellung vertreten. Sie zeigen das ländliche Leben ungeschönt.Wie, so fragt man sich, hätte Ungerer sich in Pandemie-Zeiten positioniert, lebte er noch? Hätte er den Freiheitsbegriff im Sinne derjenigen ausgelegt, die angesichts steigender Infektionszahlen immer noch darauf pochen, zuerst bei sich selbst nach dem Rechten zu schauen, die das große „Hauptsache ich“ vor sich hertragen und zum solidarischen Freiheitsakt für die Allgemeinheit hochjazzen? Unwahrscheinlich, denn zu sehr hat Ungerer immer auch anderen zugestanden, was er für sich selbst in Anspruch nahm. In seinen letzten Lebensjahren fängt er an, ein bestimmtes Lied besonders zu lieben, so berichtet es seine Tochter Aria: Die Gedanken sind frei, er hatte es einst im Großen Liederbuch illustriert. Auf seiner Beerdigung wurde es von allen Gästen gesungen.Placeholder infobox-1
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