Seine Travestie »Hallstatt« mischt Geschichte als Fiktion auf - und umgekehrt
Unter der Führung von Menahem, Sohn des Judas, erheben sich jüdische Aufständische gegen die römische Fremdherrschaft und stürmen 66 n. Chr. die Festung Antonia. Menahem erhält nun von Jahve die Botschaft, nach Jerusalem zu marschieren. Er nimmt die Stadt ein und plündert den Tem pel. Während Titus, wie der Chronist Josephus Flavius in seinem Buch Der Jüdische Krieg schreibt, mit römischen Truppen nach Jerusalem vor rückt, bricht in der befreiten Stadt die Tyrannei aus. Menahem errichtet ein Regime der Intrige, gegenseitigen Bespitzelung und Gewalt. Gegen die Diktatur des eigenen Anführers erheben sich die Juden abermals - Eleazar erschlägt
azar erschlägt den neuen Des poten. Bald aber erobern die Römer wieder die Stadt, Eleazar und die verbliebenen Juden ziehen sich in die Festung Masada am Toten Meer zurück. Sie schlagen alle römischen Angriffe ab, die Belagerer wollen sich schon zurückziehen, da schlägt der Wind um und treibt den unter den Mauern entfachten Brand in die Festung. Keiner will zurück in die Unterwerfung, ins Gefängnis, fast tausend Krieger bringen sich selbst um, wie eine Frau, die sich im Brunnenschacht versteckt gehalten hat, berichtet.Sozusagen als Parallelaktion fungiert diese Chronik zum Roman Rauschen im Kopf des slowenischen Autors Drago Jancar. Er handelt von einem Häftlingsaufstand in der Livada, einem der berüchtigsten Gefängnisse im alten Jugoslawien. Jancar selbst nimmt die Rolle des Chronisten ein, der die Schilderungen des legendären Rädelsführers dieser Rebellion, Keber, aufzeichnet. Gut möglich, daß das keine Konstruktion ist, denn der Autor saß selbst während der realsozialistischen Ära im Zuchthaus ein. Er hatte das Sakrileg begangen, das tabuisierte Thema Massenmorde und Lynchjustiz der jugoslawischen Partisanenarmee nach dem Zweiten Weltkrieg aufzugreifen. Im slowenischen Karst liegt viel Unrecht begraben, noch heute macht man in Höhlen und Bergwerks stollen Knochenfunde, die nicht aus keltischen Zeiten stammen... Von seinem Stück Hallstatt wird noch die Rede sein.Auch in der Livada gibt es, ähnlich wie im Jüdischen Krieg, eine erste, schnelle Phase des Sie ges. Während der TV-Übertragung eines Basketballspiels im Gemeinschaftsraum provoziert ein Aufseher ziemlich widerlich die Gefangenen. Als Keber das Gerät ins Fenster schleudert, ist das Si gnal zum Aufstand gegeben. Alles wird kurz und klein geschlagen, außer einem Block und dem Verwaltungsgebäude übernehmen die Häftlinge das Gefängnis und haben ein paar Geiseln in ihrer Hand. Nach der spontanen Aktion herrscht Ratlosigkeit. Man befragt Mrak, einen Büchermenschen und Unterhändler in den Angelegenheiten des täglichen Gefangenenlebens. Mrak, der Intellektuelle, der Schleimscheißer, der sich vor Angst in seine Zelle verkrochen hat. Mrak, der Führer, der sich bald zum Diktator aufschwingt. Mrak, der zunächst ganz vernünftig vorgeht, ein Gerechtigkeitsaus schuß wird gegründet, Forderungen werden aufgestellt, Verbindung mit der Außenwelt soll aufge nommen werden. Präsident des Ausschusses ist Mrak, Kommandant der Verteidigung ist Keber. Natürlich geht die Staatsmacht auf Forderungen wie Amnestie nicht ein, macht bloß ein paar unter geordnete Zugeständnisse, riegelt das Gelände ab, läßt weitere Verhandlungen platzen, setzt auf Zeit. Indessen errichtet Mrak in der Livada die Häftlingsrepublik, stellt eine Ordnungstruppe auf, geführt von einem Spitzel, erzielt ein weiteres kleines Zugeständnis. Sein Zögern in der Frage eines Angriffs auf die Verwaltung erledigt sich, als die Einheiten der Staatsmacht einen nächtlichen An griff starten. Die Häftlinge, gerüstet für den Sturm auf die Verwaltung, schlagen den Angriff zurück und nehmen die restlichen Gebäude ein.Von nun an aber sorgen Mrak und sein ergebener Polizeikommandant, daß alles in geordne ten Bahnen verläuft - sogar die Arbeit wird reorganisiert. Der Ausschuß wird abgeschafft, ein Schnellgericht und ein Gefängnis eingeführt, die Diktatur beginnt. Mrak ist ein genialer Herrscher, mit einer Kombination aus Genüssen, Gelagen, Einschüchterungen, Bespitzelungen und Gewalt er richtet er sein Machtsystem. Keber steht der Entwicklung hilflos gegenüber, wird verdroschen und eingesperrt. Aber Mrak macht zwei Fehler: indem er sich selbst überschätzt, unterschätzt er die Staatsmacht und schafft sich außerdem einen inneren Feind, der zu allem bereit ist, bis hin zum Mord. Ohne nennenswerte Gegenwehr stürmen schließlich staatliche Ordnungskräfte das Gefängnis. Kapitulation, nur eine Handvoll Häftlinge, darunter Keber, zieht sich ins Dachgeschoß zurück und leistet noch Widerstand. Und erreichen, daß sie ihre allererste Forderung durchsetzen: Wiederho lung der TV-Übertragung, bei der alles begann...Aber es handelt sich nicht nur um eine dank ihrer sprachlichen Ausgestaltung spannend er zählte Aufstandsgeschichte. Die Parallele zum Jüdischen Krieg gibt den Ereignissen eine historische Dimension. Jancar schlägt einen Bogen über die Rebellionen der Menschen gegen Unterdrückung und Fremdherrschaft. Man kann in der Häftlingsrevolte zudem die Funktionsweisen von Revolutio nen sehen. Auch in der Livada gibts es zunächst basisdemokratische Organisationsformen, wie sie in vielen Aufständen entwickelt worden sind. Immer aber bilden sich Hierarchien heraus, Anführer und Geführte, Verführer und Verführte. Noch unter den elenden Verhältnissen eines Zuchthauses gibt es Mächtige und Machtlose; und die große Bandbreite derjenigen, die sich den jeweils Mächti gen andienern. So betrachtet wird der Aufstand in der Livada zu einer exemplarischen Geschichte der Macht.Hervorragend charakterisiert sind die beiden Hauptfiguren, der neronische Diktator Mrak und der ehemalige Fremdenlegionär Keber, der sein Leben während der dramatischen Ereignisse Revue passieren läßt. Es ist die Geschichte eines Heimatlosen, entwurzelt durch den Krieg, der sich ir gendwie durchschlägt, bei den Franzosen in Vietnam und Haiti als Söldner arbeitet, später als Fun ker auf Schiffen fährt. Irgendwann lernt er Leonca kennen, seine Liebe, eine Kellnerin, die Gedan ken und Kruzifixe sammelt. Mit ihr fährt er einmal nach Masada, sie gehen die Plätze ab, von denen er bei Josephus Flavius gelesen hat. Aber Jancar läßt die Liebe als Ausweg aus der menschlichen Misere nicht gelten, jedenfalls steht dem das männliche Mißtrauen entgegen, das sich schließlich zu einer Gewaltaktion steigert - und kein »Buch der Weisheit« und keine Kruzifixe können den Gang der Dinge verhindern: «... das Böse ist ein ständiger Gast im menschlichen Herzen, da gibt es keine Rettung.«In Jancars Stück Hallstatt tritt das »Böse« in der Wissenschaft auf. Ein Archäologie-Profes sor (Menschen- und Hunderechtler und Frauenverächter) und sein weibliches Team graben in einem aufgelassenen Bergwerksschacht, wo sie einen großen Keltenfriedhof gefunden haben. Der Gelehrte ist ganz scharf darauf, die berühmten Ausgrabungen von Hallstatt zu übertrumpfen. So kann es durchaus vorkommen, daß als Kelten auch Knochenfunde mit Schuhen auf den Fußknochen regi striert werden.Im heiligen Schacht der Wissenschaft taucht Honza auf, ein Clochard, der Fragen stellt und Leben in die Bude bringt. Zwei der drei Assistentinnen stellen sich schließlich offen gegen den Pro fessor und überführen ihn der Lüge hinsichtlich der Herkunft der Knochen. Jancar versteht es, das Aufmischen von Wissenschaft und Geschichte in groteske Dialoge und ironisch bis makabre Szenen zu fassen. Der Ausgang dieser Travestie Pirandelloscher Art läßt offen, was nun wirklich aus den Flötzen der Geschichte, aus den Schächten der Erinnerung zu schürfen ist. Vielleicht nur eine Fla sche Schnaps, die die beiden Frauen und Honza am Schluß trinken, nachdem Honza eine keltische Fibel versetzt hat ... Drago Jancar: Rauschen im Kopf. Roman. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Zsolnay-Verlag, Wien 1999. 280 Seiten. 36,- DM Drago Jancar: Hallstatt. Stück. Mit einem Holzschnitt-Zyklus von Christian Thanhäuser. Aus dem Slowenischen von Nina Blazon. Edition Thanhäuser, Ottensheim 1998, 118 S., 35,- DM
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