Mit einer einzigen Szene hat Regisseur Sam Mendes in seinem Golfkriegsdrama Jarhead (2005) eine wesentliche Ambivalenz des Kriegs- beziehungsweise Antikriegskinos auf den Punkt gebracht: Da schaut sich ein Trupp Nachwuchssoldaten zum Ende der Ausbildung Francis Ford Coppolas Vietnam-Kriegsklassiker Apocalypse Now an und feiert den berühmten, von Richard Wagners Walkürenritt begleiteten Helikopterangriff frenetisch.
Die dem Genre Kriegsfilm immer schon eingeschriebene Doppelmoral zwischen der Repräsentation und der Faszination des Grauens treibt er in dieser Szene auf die Spitze: Dürfen die Schrecken des Krieges auf eine Weise gezeigt werden, dass sie zu Unterhaltung werden? Wo sind die Grenzen?
Die Geschichte des Großvaters
In Jarhead beantwortet der britische Regisse
sIn Jarhead beantwortet der britische Regisseur diese Fragen unter anderem damit, dass er die Schlachtfelder selbst weitestgehend meidet. Erst gegen Ende bricht sich die Apokalypse in Form von brennenden Ölfeldern und verkohlten Leichen Bahn – ein Eindringen des Schreckens in einen Bildraum, den bis dato das ewige Warten, die Angst und die absurde Langeweile der Rekruten austarierte. Damals erklärte Mendes, er habe keinen Film über den Krieg, sondern über Soldaten machen wollen. Mit 1917 hat er nun einen Film über Soldaten und über den Krieg gedreht. Inspirieren ließ sich der englische Regisseur von den Geschichten seines Großvaters, der 1917 mit 19 Jahren mit der britischen Armee an der Westfront gelandet war.Mendes’ Film ist gleichsam ein Ausrufezeichen im Genre, vom Kameramann Roger Deakins als atemlose Tour de Force fotografiert. Es gibt Schnitte, doch wie in Alejandro González Iñárritus surreal-existenzialistischer Comic-Helden-Persiflage Birdman geschieht die Montage unsichtbar und lässt 1917 wie einen One-Take-Film aussehen und wirken. Dank perfekt arrangierter, unglaublich aufwendiger Choreografien und einer eigens für den Film entwickelten Mini-Kamera des Münchner Kameraherstellers ARRI wird absolute filmische Unmittelbarkeit gefeiert. Gleich zu Beginn sind wir, die Zuschauer alles andere als distanzierte Beobachter des Treibens im britischen Schützengraben. Nein, wir sind selbst mittendrin, folgen den Soldaten Schofield (George Mackay) und Blake (Dean-Charles Chapman) durch das Chaos in jenen verwinkelten Gängen, die ikonografisch geworden sind für den anonymen Stellungskrieg.Der Auftrag, den die beiden jungen Männer dann im Halbdunkel einer improvisierten Kommandozentrale erhalten, ist einer für angehende Helden: Innerhalb kürzester Zeit sollen sie in das Herz der Feindeszone eindringen, um ein von der Kommunikation abgeschnittenes Bataillon vor einer Finte der Deutschen zu bewahren. Es geht um das Leben von 1.600 britischen Soldaten, darunter das von Blakes älterem Bruder.Die beiden beginnen also, sich gegen den Strom ihrer Kameraden voran durch das unübersichtliche Netz der Schützengräben Richtung Frontlinie zu schieben. Die Kamera filmt sie frontal oder jagt ihnen hinterher. Als sie schließlich den Graben verlassen, um das Niemandsland zwischen den Fronten zur überqueren, löst erdrückende Weitläufigkeit die Enge ab: Totes Land, durchzogen von Stacheldrähten und Kratern.Die Soldaten müssen durch ein Meer aus Schlamm und Leichen waten. Und wir mit ihnen, mitten durch die Wolken aus Schmeißfliegen über den verwesenden Tieren. Immer in Bewegung, folgen wir ihnen über die Laufzeit von 120 Minuten durch sich verändernde Topografien des nicht immer sofort erkennbaren Schreckens, durch ein Auf und Ab von sinnlicher Ruhe und todbringendem Sturm.Filmische Bilder vom Ersten Weltkrieg, wie Mendes und sein Team sie hier beschwören, hat man so noch nicht gesehen. Wahrscheinlich noch von keinem der Kriege des letztens Jahrhunderts, die doch etlichen Filmemachern Stoff boten für ein reichlich durchexerziertes Genre. 1917 bedient dabei viele Variablen: Es geht um die Grausamkeit des Krieges, um (ungewolltes) Heldentum, auch an Pathos – letzte Sekunden in den Armen eines Kameraden – mangelt es nicht. Doch indem Mendes sich auf die beiden jungen Männer konzentriert und sie mittels seiner formalen Ausgestaltung zur Projektionsfläche eines nicht größer kontextualisierten Kriegsgeschehens macht, hebt sich 1917 vom Gros des Genres ab.Von der angloamerikanischen Kritik ursprünglich eher zwiespältig aufgenommen, gilt der Film nach den kürzlichen Auszeichnungen bei den Golden Globes für die beste Regie und als bestes Drama nun als großer Favorit auch bei den diesjährigen Oscarverleihungen.Auch wenn 1917 inhaltlich ein Historienfilm ist, macht ihn sein Format zu einem Film des aktuellen Zeitgeschmacks. Denn wo moderne Klassiker des Kriegsfilmgenres wie Michael Ciminos Die durch die Hölle gehen oder Stanley Kubricks Full Metal Jacket auf Psychologie bauten oder Filme wie Terrence Malicks Der schmale Grat durch Kontrastierung von spirituell angereicherten Naturaufnahmen und Krieg und Tod auf ein metaphysisches Moment setzten, ist nun die Immersion das Gebot der Stunde.Audiovisueller AnschlagSo lieferte im letzten Jahr bereits Peter Jackson mit seiner Archivmaterialzusammenstellung They Shall Not Grow Old einen Film, der genau das im Sinn gehabt haben dürfte. Ein Eintauchen des Zuschauers ins Geschehen machte Jackson durch eine experimentelle Restauration möglich, die Bildmaterial und O-Töne von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg digital nachkolorierte und bearbeitete. Der Zuschauer „erlebte“ auf diese Weise eine aktualisierte und in eine stringente Erzählung gepresste Version des Krieges, von der Rekrutierung bis zur Heimkehr.Mit ganz anderen Methoden, aber kaum weniger erfolgreich zog auch Christopher Nolan in seinem Dunkirk von 2017 den Zuschauer ins Geschehen, diesmal des Zweiten Weltkriegs, indem er auf drei Zeitebenen an Land, zu Wasser und in der Luft von der Evakuierung des britischen Expeditionskorps erzählte. Dunkirk war eine Art audiovisueller Anschlag, der den Zweiten Weltkrieg als totale Verstörung zeigte: Als Schreckenstreiben, in dem der Mensch auf die reine Physis reduziert wird, rhythmisiert durch todbringende Maschinen.Nolans immersive Überwältigungsmaschine machte es dem Zuschauer zu keiner Zeit „leicht“. Auch 1917, der aktuelle Endpunkt einer technischen Evolution, zeichnet nichts weich. Dennoch atmen die an die Videospiel-Ästhetik erinnernden Bilder dieser totalen Immersion immer auch einen Hauch Sensationalismus. Sie befriedigen neben all dem gezeigten Grauen die Bedürfnisse unseres medial sozialisierten Wahrnehmungsapparats. Und da landet man ganz unweigerlich wieder bei der Moral der Bilder, wird doch der Erste Weltkrieg in nicht wenigen Momenten von 1917 zu einem regelrechten Spektakel für den geneigten Kinogänger gemacht. In den in dieser Hinsicht zweifelhaftesten Momenten wirkt 1917 wie eine elaborierte Technikschau.Es gibt Szenen, in denen das Erlebnis des Zuschauers über der Logik der Erzählung zu stehen scheint. Als die Soldaten auf geheimer Mission sich eine Luftschlacht zwischen britischen Kampfflugzeugen und einem deutschen anschauen, verlassen sie einfach den Schutz der zerstörten Scheune und stellen sich mitten auf das freie Feld. Ist das ein Widerspruch in diesem doch auch sehr auf Realismus pochenden Film? In Bezug auf den Effekt muss man das bejahen: Die Maschine rast eindrucksvoll auf die beiden Davonrennenden und damit auf uns zu und kracht durch das Tor der Scheune. Ansonsten: Wohl kaum.Wie hat Francis Ford Coppola einmal gesagt: „Alle Kriegsfilme sind Antikriegsfilme“. Der Satz lässt sich auch einfach umdrehen. Das ist die Ambivalenz, mit der es im Kino zu leben, die es aber immer wieder zu hinterfragen gilt. Sam Mendes’ 1917 ist großes Kino, von dem man sich berauschen lassen kann, ein Fest der einzigartig eingefangenen Bilder. Aber genau das hat auch seinen Preis. Die größte Suggestivkraft im Film geht im Übrigen wieder von einer Szene aus, die gar nichts mit dem Schlachtfeld zu tun hat: Da sieht man ein paar gefällte Kirschbäume, an deren Zweigen noch die Blüten strahlen.
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