Lauschangriff 20/08

Musik Am Anfang von allem stand eine Band. Ein Quartett junger Musiker aus dem Umfeld der Kunsthochschule Cal Art in Los Angeles wollte eine Musik spielen, ...

Am Anfang von allem stand eine Band. Ein Quartett junger Musiker aus dem Umfeld der Kunsthochschule Cal Art in Los Angeles wollte eine Musik spielen, die keine der musikalischen Erfahrungen ausschloss, mit denen es groß geworden war. Eine Musik also, die im Jazz ihr Fundament hat, in der jedoch auch die Energie und der Lärm des Punk, die strukturelle Differenziertheit europäischer komponierter Musik, die aufregenden Klangwelten ethnischer Musik tragende Säulen sind. John McLaughlins Mahavishnu Orchestra war für die vier Musiker ein Erweckungserlebnis gewesen, das ihnen bedeutete, ohne Spannungsverlust widerstrebende Pole in einer Musik zusammen bringen zu können. Fünfzehn Jahre spielten der Violinist Jeff Gauthier, der Bassist Eric von Essen sowie die Zwillingsbrüder Alex und Nels ­Cline an Schlagzeug und Gitarre zusammen. Sie nannten ihr kammermusikalisch aufeinander abgestimmtes Ensemble Quartet Music, und sie hatten viel zu erarbeiten.

In Los Angeles wurde Quartet Music zum Zentrum einer musikalischen Community, einer Gemeinschaft, die die eigene musikalische Geschichte als eine von vielen Möglichkeiten begriff und sich öffnete für weitere Einflüsse. "Musik dreht sich um Community", sagt Jeff Gauthier, der Violinist des Quartetts, in dem er noch heute als der Leiter des Label Cryptogramophone eine zentrale Rolle einnimmt. Allerdings verortet Gauthier diese Community in anderen diskursiven Zusammenhängen als die schwarze Community, die den Jazz einmal hervorgebracht hat. "Ich bin weiß und Jude, die schwarze Erfahrung von Unterdrückung habe ich nicht gemacht."

Als Eric von Essen starb, wollte ihm seine Band im Sommer 1997 ein Denkmal setzen. Die dreiteilige CD-Reihe The Music of Eric von Essen ist das Gründungsmanifest des Labels Cryptogramophone, das schnell eine Reputation als zentrale Quelle für musikalisch vielfältigen, polyglotten Gegenwartsjazz von der Westküste gewann. Es geht in der Musik des Labels um die Balance zwischen Freiheit und Disziplin, Lärm und Stille, Harmonie und Dissonanz, um rau und geschniegelt, simpel und komplex, roh und gekocht. Gauthier und die Cline-Brüder benutzten alle kompositorischen und strukturellen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, um die Gegensätze unter Spannung zu halten: verschiedene Tonalitäten jenseits der Dur/Moll-Gravitation, wechselnde Metren, komplexe Rhythmen. "Es ist eine Gemeinschaft", analysiert Gauthier, "in der jeder einen eigenen Dialekt spricht." So kann man es sagen. "Ein Label ist wie eine Familie, ein bisschen kaputt manchmal, aber dadurch noch mehr Familie."

Zur Feier seines zehnjährigen Bestehens gönnt sich das Label einige Geburtstagsgrüße: Die Box Assemblage präsentiert auf einer Doppel-CD Ausschnitte aus dem Programm und dokumentiert mit einer DVD, dass diese Musik eigentlich live gespielt und entwickelt werden muss. Bei aller Raffinesse der kompositorischen Vorlagen ist es die Improvisation, das Spiel mit Risiko und Inspiration, die im Zentrum der Musik steht.

Daneben gibt es neue Veröffentlichungen von Bennie Maupin, der im Umfeld der jüngeren Kollegen den aufgeklärten Klassiker gibt: tief in die Jazzgeschichte verwoben, doch stets bereit, sein Spiel mit neuen Ideen zu konfrontieren. Und Jeff Gauthier schlägt mit House of Return, der neuen CD seines Goatette, in dem die Cline-Brüder den Widerpart bilden, den Bogen zur ursprünglichen Idee: Alles ist möglich, vieles steht nebeneinander und befruchtet sich gegenseitig. Jazz und Punk, Romantik und Elektronik, Ethno und Ambient - in der Community um das Label Cryptogramophone scheint es keine Grenzen zu geben zwischen den Genres. Hier gibt es nur eine Musik: gute oder weniger gute. Und es ist klar, auf welcher Seite die Musiker stehen wollen.

Jeff Gauthier:House of Return; Assemblage 1998-2008. A Ten-Year Retrospective, DVD, 2 CDs; Todd Sickafoose:Tiny Resistors; The Bennie Maupin Quartet:Early Reflections; The Music of Eric von Essen Vols I, II, III; Nels Cline:New Monastery - a view into the music of Andrew Hill (alle Cryptogramophone/AL!VE)

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden