Lottospieler verstehen mehr vom Glück

Lob auf die Lotterie Wer Lotto spielt, heißt es, lässt sich übertölpeln. Er investiert viel Geld und bekommt nichts. Falsch.

Die landläufige Meinung scheinbar aufgeklärter Menschen ist, dass Lottospielen, bei Licht betrachtet, sinnlos ist. Und die Lottospieler die Dummen. Millionen Menschen, sagen die Lottofeinde, bezahlen regelmäßig Geld in eine Erwartung, die sich, statistisch gesehen, nie erfüllt. Und es gewinnt – immer die Bank. Ein gutes Beispiel, das dies plastisch veranschaulicht: Ein Mensch hat in einer mittelgroßen Stadt in einem Restaurant seine Jacke liegen lassen und ein Unbekannter hat sie mit nach Hause genommen. Würde dieser Mensch nun anfangen, nach dem Telefonbuch alle möglichen Bewohner der Stadt anzurufen, um irgendwann denjenigen mit der vermissten Jacke ausfindig zu machen, stünden die Chancen ähnlich hoch wie die, eine nennenswerte Summe im Lotto zu gewinnen. Würde dieser Mensch in seine Strategie ernsthafte Hoffnungen auf Erfolg investieren, wäre das ähnlich verrückt wie – nun – eben wie Lotto zu spielen. Wer einen gewöhnlichen Lottoschein mit allen Feldern, ohne Zusatzspiele ausfüllt, und pro Schein etwa zehn Euro investiert, könnte statistisch gesehen, seine zehn Euro fast ebenso gut in den Gulli werfen. Natürlich. Wer sich auf das Glatteis einer vernünftigen Diskussion begibt, muss diejenigen, die vor den Lottostellen Schlangen bilden, um den Super- Jackpot zu knacken, zwangsläufig für eine Horde von Tölpeln halten. Aber das sind sie nicht.

Lottospieler versuchen, jeder ganz individuell, mehrmals wöchentlich, etwas Wunderbares. Jeder Lottospieler weiß, natürlich, welche Chancen er statistisch gesehen, auf den Jackpot hat. Denn die Massenmedien informieren fortwährend darüber, und nichts interessiert die Menschen mehr als Zahlen, Sicherheiten, Unsicherheiten, Wahrscheinlichkeiten und Berechnungen, wenn es um das eigene Geld geht. Lottospieler wagen, diesem Wissen zum Trotz, unbeirrt, das Unmögliche herauszufordern. Einfach so. Wer seinen Lottoschein trotzig mit kleinen blauen Kreuzen übersät, sagt sich und der Welt: „Was glaubt ihr? Es soll unmöglich sein? Ich pfeife drauf. Das Glück steht mir zu, es KANN Wirklichkeit werden.“ Und keinem Mäkler räumt der Lottospieler nur einen Fußbreit ein, ihm seine Hoffnung zu nehmen. Denn er weiß es besser als alle Statistiker, wie wichtig Hoffnung ist. Und der Glaube ans Glück.

Dass Geld nicht glücklich macht, wenden die Schlauen ein. Darüber mag man sich streiten. Was müßig ist, denn darum geht es nicht. Das gute Gefühl beim Lottospiel hat wenig mit barem Geld zu tun. Fragt man einen Lottospieler: „Was würden Sie machen, wenn Sie den Jackpot gewinnen würden?“, bekommt er meist rote Wangen und erzählt irgendwas. Reise auf die Malediven. Shoppen ohne Limit. Villa mit Swimmingpool. Haus am Meer. Er könnte es auch in der umgekehrten Reihenfolge sagen. Oder etwas ganz anderes. In Wirklichkeit ist es egal. Denn die Wortketten stehen für etwas ganz anderes als für eine Reise oder ein Haus, das der Lottospieler, wie er ganz genau weiß, nie bekommen wird. Sie stehen für das Glück. Und das Glück, das wirkliche Glück, das weiß der kluge Lottospieler, kann überhaupt nur in einer Vorstellung bestehen.

Das ist es, was der Lottospieler erwirbt, wenn er zehn Euro in einen Lottoschein investiert. Gut angelegtes Geld, könnte man sagen.


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