Maiglöckchen statt Mainelke

Therapeuten berennen die IG Metall Aus der Gewerkschaft soll ein bürgerlicher Verein werden

Es mangelt derzeit nicht an Ratschlägen, wie die IG Metall wieder zu Kräften kommen könne: Um zukunftsfähig zu werden, müsse sie lediglich überkommene Strategien aufgeben, ihre Ziele neu ausrichten, natürlich ihre "Blockadehaltung" ablegen und "konstruktiv an vernünftigen Lösungen" mitarbeiten. Sie müsse ihre Mitgliederbasis stärker an Entscheidungen beteiligen. Sie dürfe nicht nur die Interessen von Beschäftigten vertreten, sondern müsse sich am Gemeinwohl orientieren, dem neuen Leitstern einer modernen Gewerkschaft.

Ich bezweifle, dass eine solche "Modernisierungskur" zur Genesung der Patientin führt. Ich halte die Reformvorschläge auch nicht für modern, denn die Empfehlungen - Vernunft, soziale Offenheit, Gemeinwohlorientierung - weisen historisch weit zurück. Sie deuten auf eine Organisationsform, die bereits vor Entstehung der Gewerkschaftsbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert etabliert war: den bürgerlichen Verein.

Die heute geforderte Lösung gewerkschaftlicher Probleme existierte also schon lange vor Gründung der Gewerkschaften. Damit stellt sich die Frage, warum diese überhaupt eine andere Entwicklung nahmen. Warum waren Gewerkschaften keine Vereine? Der Verein bot - zumindest seiner Idee nach - allen Menschen unabhängig von Stand und Einkommen die Möglichkeit, sich zu freien Menschen zu bilden, er ignorierte soziale Unterschiede. Die schienen eher ein technisches Problem.

Während der bürgerliche Verein den ökonomischen Bereich ausblendete, verband sich die Gewerkschaft eng mit dem Markt. Der bestimmte ihren Zweck und war ihr Aktionsfeld. Ziel der Gewerkschaft war nicht Bildung oder politische Mitbestimmung, sondern materieller Ausgleich ökonomischer Abhängigkeit von Lohnempfängern. Dazu errichtete sie ein Unterstützungswesen, das das Risiko von Arbeitsplatzverlust und Krankheit auf viele Schultern verteilte. Ihr effektives Druckmittel war der Streik, mit dem sie dem Arbeitsmarkt das Angebot entziehen konnte.

Streik und Solidarkassen waren marktförmige, keine politischen Strategien. Die Kassen benötigten das Geld, nicht die Gesinnung der Einzahler. Der Erfolg eines Streik hing davon ab, dass die Arbeitskraft der Streikenden gefragt war.

Die Marktförmigkeit ihrer Strategien bedingte die soziale Exklusivität von Gewerkschaften. Zwar verbanden sie - schon aus taktischen Gründen - ihre Ansprüche mit allgemein politischen Forderungen, vor die Wahl gestellt, vertraten sie jedoch die Interessen von Beschäftigten, wie man an ihrer oft halbherzigen Erwerbslosenpolitik erkennen kann. Nur eine ausreichende Zahl von Lohnempfängern konnte die Unterstützungskassen füllen und erfolgreich streiken.

Gewerkschaften und Vereine agierten mithin auf verschiedenen Feldern und mit unterschiedliche Strategien. Und weil es weiterhin Menschen geben wird, deren Arbeitskraft ihr einziges Kapital ist, wird die vorgeschlagene Therapierung der IG Metall zur sozialen Bewegung, ihre Verlegung von der ökonomischen in die politische Abteilung ihr nicht helfen. Im Gegenteil: Eine Ausweitung ihres Vertretungsanspruches über die Interessen von Beschäftigten hinaus würde ihre Aktionsfähigkeit begrenzen. Gleiches gilt für die Forderung, die IG Metall solle sich am Gemeinwohl orientieren. Warum sollte man nicht im Namen dieses Gemeinwohls gleich das Streikrecht einschränken? Die Gewerkschaft könnte dann "vernünftig und konstruktiv" an Lösungen mitarbeiten, die höheren Orts - am besten von überparteilichen Gerichten - beschlossen werden. Ein Vorschlag, wie ihn Die Zeit nach dem gescheiterten Metallerstreik im Osten lancierte und der in der Weimarer Republik bereits - mit zweifelhaftem Erfolg - praktiziert worden war. Man kann diese Veränderungen wollen, sollte aber das Ergebnis aus den genannten Gründen nicht mehr "Gewerkschaft" nennen.

Anstatt die Gewerkschaft in den bunten Mix sozialer Bewegungen einzurühren, könnte umgekehrt die Zivilgesellschaft von ersteren lernen - sie könnte sich beispielsweise abschauen, wie man über phantasievolle Symbolpolitik hinaus gewaltfreien Widerstand "mit Biss" leistet.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden