Mezzogiorno Ost

Besetzen statt abwarten Waggonbauer in Halle setzen ein Zeichen gegen Passivität und Zynismus

Wutentbrannter Kanzler, leuchtend gelb dekoriert. Die Szene vom Mai 1991 wird Kohl nicht vergessen haben. Die Bürger Halles offensichtlich auch nicht. Denn mit ihrer Eier-Attacke auf des Dicken Filz haben sie nicht nur für eines der schönsten Bilder der deutschen Einheit gesorgt, sondern auch ein Zeichen gesetzt, dessen sie sich heute wieder erinnern. Nur wie soll man treffen, wenn die Zielperson fehlt, wenn die Entscheidungsgewalt auch noch jenseits des Atlantik liegt? Nach wochenlangen Protesten gegen die Schließung des Waggonbaus in Halle-Ammendorf, des letzten Großbetriebes der Stadt, der dem kanadischen Bombardier-Konzern gehört, haben die Beschäftigten die Antwort gefunden: nicht Eier werfen, sondern das Werk besetzen. Prompt reagierte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Höppner auf die für deutsche Verhältnisse spektakuläre Aktion: das Werk sei gesichert, ließ er wissen.

Beides, Aktion und Reaktion, zeigten die Dramatik nicht nur der Hallenser, nicht nur der anhaltinischen, sondern der ostdeutschen Situation insgesamt. Denn Ammendorf und der ebenfalls bedrohte Bombardier-Standort Vetschau sind nur die letzten Glieder in einer Kette schlechter Nachrichten. Das Bruttoinlandsprodukt sinkt (minus 0,6 Prozent 2001), und die Unterbeschäftigung (offene plus verdeckte Arbeitslosigkeit) steigt auf ein Niveau von 25 Prozent. Ein nationaler Notstand - würde man sagen, wenn in Bayern und Baden-Württemberg oder in ganz Nordrhein-Westfalen jeder Vierte keine reguläre Beschäftigung hätte.

Dem Osten Deutschlands fehlen aber nicht nur aktuell die Jobs, sondern vor allem auch die Zukunftsperspektiven. Seit nunmehr sechs Jahren wird die Schere wirtschaftlicher Leistungskraft zwischen Ost und West größer. Von Angleichung redet niemand mehr, und wer jung und mobil ist, zieht die Konsequenz. Die heute 18- bis 30-jährigen wiederholen den Exodus junger Talente der frühen Wendezeit. Mezzogiorno - das Schreckgespenst könnte doch noch Wirklichkeit werden, in der Mitte Europas.

Nicht Potsdam, Dresden und Jena, aber doch ein beträchtlicher Teil Ostdeutschlands droht in einem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Vergreisung zu versinken, wenn die Bürger Ost nicht endlich ihren Mut wieder finden und die Entscheidungsträger West nicht endlich ihren Zynismus überwinden. Dass eine wirtschaftlich geteilte Republik auf Dauer nicht haltbar ist, sagen alle. Nur die Taten fehlen. Es reicht nicht, die westdeutsche Wirtschaftsförderung phantasielos und schematisch auf eine Region anzuwenden, die eines neuen und experimentierfreudigen Ansatzes bedarf. Wenn die Talfahrt anhält, wird es in Teilen Ostdeutschlands bald nichts mehr geben, was noch gefördert werden könnte. Ortschaften, die zu 60 Prozent und mehr von Arbeitslosengeld, ABM, Sozialhilfe und anderen Transfereinkommen leben, sind bereits jetzt keine Seltenheit.

Um so wichtiger ist die Aktion der Ammendorfer Waggonbauer. Sie helfen nicht nur sich selbst, sondern setzen auch ein Zeichen gegen die Passivität, gegen eine Kultur der Abhängigkeit, gegen das Warten auf Entscheidungen von oben. Vielleicht sollten sie noch einen Schritt weitergehen und verlangen, dass sie das Werk für einen symbolischen Euro übernehmen können. Und warum sollten der Bund und das Land Sachsen-Anhalt im Verein mit den Großkunden, wie der Deutschen Bahn, diesen Belegschafts-Buy-Out nicht unterstützen? Schlechter als Bombardier und andere Investoren, die trotz hoher Subventionen keine Perspektive bieten und hochproduktive Anlagen in Ruinen verwandeln wollen, werden die Hallenser nicht sein.

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