Vom 30. November bis 3. Dezember konferiert in Seattle die III. Ministerratstagung der Welthandelsorganisation (WTO) - gelegentlich zum "Welthandelsgipfel" hoch stilisiert. Selten war eine solche Konferenz derart mit Erwartungen und Befürchtungen überfrachtet, von Euphoriegebaren und Horrorszenarien begleitet. - Richtig ist, Seattle soll der Liberalisierung des globalen Handels einen kräftigen Schub geben. Wie nie zuvor sollen Zollschranken fallen und "nicht-tarifäre" Handelsbarrieren (Subventionen, technische und Sicherheitsstandards, handelspolitische Abwehrmaßnahmen) durchbrochen werden. Wie nie zuvor sollen im 21. Jahrhundert Warenströme, Dienstleistungen, Investitionen, Lizenzen ungehindert ihre Adressaten suchen dürfen. Aber richtig ist auch, Seattle wird zu alldem zunächst eine "Verhandlungsrunde" einläuten, die frühestens 2005 abgeschlossen wird, denn hinter der Radikalität des beschriebenen Vorsatzes verbergen sich schwer kalkulierbare Risiken. Nicht zuletzt deshalb stehen die sogenannten Giganten des Nordens keinesfalls in geschlossener Formation. Und auch der Süden ist eher zerstritten und durch diverse Einzel interessen parzelliert.
Die angestrebte Liberalisierung des Agrarhandels etwa wird von den USA, Kanada und Australien ganz anders gesehen als von der EU mit ihrer stringenten Agrarmarktordnung. Die erwogenen Sozial- und Umweltstandards für den Welthandel, die den Entwicklungsländern weitere Wettbewerbsnachteile verschaffen könnten, müssen erst einmal durchgesetzt werden. Die WTO besitzt dafür bereits Sanktionsmittel, ob sie allerdings zur Anwendung kommen, steht auf einem anderen Blatt. - Seattle wird dazu lediglich Entscheidungen vorbereiten, auf keinen Fall treffen.
Ohnehin unterliegen Liberalisierung und Deregulierung unzweifelhaft einer Legitimationskrise. Nach den katastrophalen Einbrüchen in Mexiko oder Südostasien gilt das mehr denn je. Ganz zu schweigen von den dahinsiechenden Ökonomien im subsaharischen Afrika, die auf dem Weltmarkt nicht einmal ein Schattendasein fristen. Für den Süden generell sind die Folgen der letzten Welthandelsrunde (Uruguay-Runde / 1986 - 1994) noch längst nicht verkraftet, als bereits eine resolute Liberalisierung des Handels mit Agrar- und Textilerzeugnissen sowie mit Dienstleistungen ausgelöst wurde.
Fast scheint es so, als zeigten sich derzeit statt weiter Horizonte viel mehr die Grenzen eines liberalisierten Welthandels. Seine Protagonisten blicken nur mit "gedämpftem Optimismus" auf Seattle - seine Gegner sollten es daher mit einem gelassenen und "gedämpften Pessismus" halten.
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