Es ist schwer, in einer Halle mit lauter aufgebahrten Leichen einem etwa dreijährigen Kind, dem einer aus nächster Nähe den halben Hirnschädel weggeschossen hat, in die offenen Augen zu sehen. Man denkt dann an die eigenen Kinder, und man stellt sich vor, was das kleine Mädchen kurz vor seinem Tod gedacht und gefühlt hat. Kurz, man möchte am liebsten rausrennen und nur noch heulen. Man möchte jedenfalls nicht nach Formulierungen suchen, um dieser schrecklichen Begegnung einen angemessenen sprachlichen Ausdruck zu geben. Warum muss man, etwa als Journalist, da hinsehen? Schreiben mag man nicht darüber. Das Bild lehrt uns auch nicht, die politischen Umstände des Krieges zu verstehen, denn nichts ist vor diesem Schreckensbilde gleichgülti
Mit dem Blick eines serbischen Papalagi
KRIEGS-PROSA Peter Handkes neuer Roman "Unter Tränen fragend" über den Krieg auf dem Balkan krankt an seiner Parteinahme für die "serbische Sache"
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ltiger als zu wissen, ob das ein albanisches, ein serbisches oder ein bosnisch-muslimisches Kind gewesen ist. Das ist der Krieg, er ist schrecklich. Aber das wussten wir schon. Wozu hinsehen und sich fürs Leben mit den toten Augen belasten?Über den Krieg zu schreiben ist schwer. Vielleicht braucht mancher Autor starke Reize, um einen Text zustande zu bringen, den man nicht sofort wieder vergisst. Aber so starke Reize, wie der Krieg sie bietet, braucht niemand. Manchem Autor genügt vielleicht zu sehen, wie die kleinen Kinder in einem Flüchtlingslager panisch in die Arme ihrer Mütter flüchten, wenn ein großer Junge mit dem Skateboard über den holprigen Asphalt fährt. Das hört sich nämlich an wie Maschinengewehrfeuer. Viel über den Krieg sagt aus, wie junge Soldaten die Hinterlassenschaften der Geflüchteten in einem eroberten Dorf zu Spielzeug machen, die Sofas in den Regen stellen und sich aus Schränken einen Unterstand basteln, während es aus den Eischränken und Kühltruhen nach verdorbenem Fleisch stinkt. Schlimm ist es auch zu sehen, wie ein Sechsjähriger furchtbar weint, weil ihm im Bunker plötzlich klar wird, dass ihm jetzt nicht einmal sein starker Vater helfen kann, und die Schuldgefühle des Vaters zu spüren. So etwas müsste an Reizintensität eigentlich reichen, um einen angemessenen Text über den Krieg zu Stande zu bringen. Mancher Autor kommt vielleicht mit noch weniger aus. Peter Handke ist es im Wunschlosen Unglück gelungen, aus scheinbar banalen Episoden im Leben einer Frau deren ganze Verzweiflung spürbar zu machen. Ein Dichter braucht keine Bomben und keine Leichen, wenn er über den Krieg schreiben will. Aleksinac, 27. April 1999, drei Wochen nachdem dort die Nato ein Wohnviertel bombardiert hat: Rückfahrt am selben Tag nach Belgrad, denn "keiner von uns ist mehr fähig, noch so eine Zerstörung aufzunehmen".Seit Jahren nun schon schreibt Peter Handke über den Krieg, und kaum einer merkt es. Seine Parteinahme für die Serben ist die Trauer über die Zerstörung von Menschen durch den Krieg, auch über den Zerfall Jugoslawiens. Der TV-Pöbel, denkt er, bewältigt die Herausforderung des Krieges, indem er sich einen Schuldigen sucht: die Serben, Milosevic. Wie billig! In Wirklichkeit hält uns keine Formel für die elementare Erfahrung des Krieges schadlos. Statt es zu bewältigen, vergrößert seine marktschreierische Darstellung das Grauen nur. Immer Opfer, immer albanische im Fernsehen, schon Zahlen zu nennen und Bilder zu zeigen ist obszön: "Ihr Medien entwirklicht oder, eher, verformt und verderbt jedes Mitgefühl, indem ihr zuerst mitbombt und dann die Stories eurer (in jedem Sinne Âeurer Gebombten) verschachert". Handke fühlt sich vielmehr spontan ein in die, "von denen die Rede ist", die die Gültigkeit einer Moral beweisen, dem Westen seine Überlegenheit demonstrieren sollen oder die auf andere Weise zum Objekt gemacht werden. Der Krieg, wie ihn die Medien transportieren, klingt ihm in den Ohren wie Lärm und Geschrei. Selbst da, wo ihr vom Krieg nichts wahrnehmt, erklärt der Künstler den journalistischen Kunsthandwerkern, da zerstört er Menschen: im Serbien der WinterlichenReise zum Beispiel, wo noch gar kein Krieg herrschte, oder in Paris, wo die Schulkameraden eines zwölfjährigen serbischen Mädchens ihre bloß menschliche, gar nicht politische Solidarität unter dem Eindruck der Medienberichte widerrufen. Natürlich kann man die "kleinen", indirekten Opfer des Krieges auch unter Albanern und Muslimen finden, nicht bloß unter Serben. Handke hat sie dort extra nicht gesucht. Früh schon hat er die Opfer unter den vermeintlichen Tätern ausgemacht, da, wo man sie am wenigsten vermutete; hätte er anderswo gesucht, wäre seine Anklage gegen den Krieg nicht so radikal ausgefallen. Wo die anderen von Völkern sprachen, wollte Handke, seinem Impuls nach, von Menschen sprechen, und bis heute weigert er sich, das in seinen Augen produktive Missverständnis aufzuklären. Natürlich würde Handke Albanern, Muslimen, Kroaten nicht absprechen, Opfer zu sein. Aber sie kommen in seinen Texten ja fast gar nicht vor. In Banja Luka hat Handke mit dem katholisch-kroatischen Bischof Franjo Komarica gesprochen. Am Ende des Berichts darüber unternimmt er einen etwas hilflosen Versuch, die Sicht des Bischofs mit seinem eigenen politischen Bild zu versöhnen, aber sonst geht er fair mit ihm um. Er hat dem Bischof wohl nicht erzählt, dass die vertriebenen Kroaten von Banja Luka selber Schuld waren. (Auch für solche Peinlichkeiten sind manche sich nicht zu schade.)Mehr noch als die Winterliche Reise und erst recht als die Fahrt im Einbaum ist UnterTränen fragend ein politischer Text. Politisch aber ist Handke ein Idiot, und das aus Überzeugung, sich so fest in die Tradition des deutschen Bildungsbürgertums stellend. Er politisiert seine antipolitische Sicht, ergreift Partei und fällt auf sein selber produziertes Missverständnis selber herein. Besonders in der Fahrt im Einbaum hat Handke sich angeschickt, den Blick den Balkanbewohners nach Westen darzustellen - einen erhellenden, interessanten Blick, den wir in der postjugoslawischen Kriegsberichterstattung sonst nirgends finden. Wie muss ein junger Serbe wohl die zur Schau gestellte Multikulturalität von Westlern empfinden, die auf der Party an einem Afrikaner ihre gymnasialen Französischkenntnisse erproben, aber ausflippen, wenn die Zigeuner unter der Brücke sich nicht an die Regeln der Mülltrennung halten? Oder dass drei vorübergehend festgenommene US-Soldaten im Kosovo-Krieg eine Woche lang sämtliche Hunderttausende anderer (vor allem albanischer) Kriegsopfer in der medialen Präsenz ausstechen? Als Heuchelei natürlich. Aber wenn Handke den Blick einmal trifft, dann ist er kein typisch serbischer. Die Kriege im früheren Jugoslawien werden zwischen früheren Jugoslawen geführt, nicht zwischen ihnen auf der einen und dem Westen auf der anderen Seite. Der "balkanische Blick" lässt sich bei Albanern oder Muslimen genauso, vielleicht noch besser studieren als bei Serben. Trotzig rechtfertigt Handke die Propaganda im serbischen Fernsehen, wo die Kamera fortwährend unter patriotischen Klängen über die schöne Landschaft fährt und wo Bauern in der "schönsten Volkstracht" gegen den Krieg tanzen. Er weiß nicht, dass haargenau dieselben Aufnahmen im kroatischen und albanischen Fernsehen gezeigt werden, dass der musikalische Schwulst hier und da derselbe ist und sich sogar die Trachten zum Verwechseln gleichen. Und das soll dann, nach Handke, im einen Fall Kitsch sein, im anderen, im serbischen, dagegen "nichts Gemachtes oder gar Bezwecktes", vielmehr "etwas Naturgewachsenes"? Handke argumentiert nicht, erörtert nicht, wägt nicht ab, recherchiert nicht. Schön beschreibt er, wie die Belegschaft eines Restaurants, obwohl niemand essen kommt, das Berufsleben weiterspielt. Das aber hat mit dem Krieg nichts zu tun und war schon vorher nicht anders. Man muss hingehen, um nicht noch das erbärmliche Gehalt zu verlieren; in Kroatien und Bosnien war es genauso. Ungeprüft kolportiert Handke die Legende, in Belgrad lebten 100.000 Albaner. Den albanischen Soziologen Fehmi Agani, den er nicht kennt, macht Handke zum "Dichter", die paar serbischen Wörter, die er in seinen Text einstreut, sind fast alle falsch; es kommt ihm nicht darauf an. Handke sammelt bloß Eindrücke - ein Bilderverkäufer auf dem Markt der Begriffe, der sich ärgert, dass seine Ware von der Kundschaft nach Material und Gewicht beurteilt wird.Es ist lohnend, dem Westen seinen Spiegel vorzuhalten, Heuchelei zu denunzieren, zu zeigen, wo mit zweierlei Maß gemessen wird. Aber bis zu einer politischen Erkenntnis ist es dann noch ein weiter Weg. Man kann im Westen vielleicht einiges für die serbische Sache ins Feld führen. Dass die Bundesrepublik Jugoslawien so gut sei wie der Westen schlecht, glaubt dortselbst niemand. Die Würde eines kleinen Volkes, die ethnische Toleranz im Alltag, das Leiden der einfachen Menschen, das Völkerrecht, die Idee des Sozialismus, die antifaschistische Tradition, die Ursprünglichkeit, der angeblich "südslawische" (in Wirklichkeit: balkanische) Kodex der Gastfreundschaft: alles, was für die Position von Slobodan Milosevic in diesem Krieg sprechen könnte, wurde irgendwann in Dienst genommen, missbraucht, entehrt und bei Bedarf wieder denunziert. In der Krajina sprach das "Blut" für die serbische Sache, weil dort so viele Serben lebten, im Kosovo war es der "Boden", immer wie es gerade passte; mal ist es die europäische Linke, mal die europäische Rechte, mal Haider, mal ein österreichisches Dichtertalent. Weil Handke glauben möchte, in Jugoslawien organisiere sich der Widerstand gegen die kapitalistische Moderne, weigert er sich zu glauben, dass die feiernden Jugendlichen auf dem Platz der Republik Cola-Dosen zurücklassen, wie ein Korrespondent es beschrieben hat. "Die Bomben haben immerhin bewirkt, dass wenigstens eine Jugend auf der Welt geheilt ist von CC (Coca-Cola) und McD." Wie falsch! Er schaue sich in Belgrad nur um: Am westlichsten geht es da zu, wo man sich das leisten kann, und leisten kann man sich etwas, wo man dem Regime nahe ist. Wer sitzt denn am Terazije-Platz bei MacDonald's? Wird in der Disco von Milosevic-Sohn Marko in Pozarevac etwa die Gusla geschlagen und Sliwowitz getrunken? Fuhr Arkan einen Zastava? In Wirklichkeit geht es in Belgrad nur um Macht und Geld. Handkes Blick ist nicht der serbische, eher der eines serbischen Papalagi, der nur erdacht wurde, um die eigene Kulturkritik in ein anderes Volk zu projizieren. Die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit, die Wut der Serben kommen in Handkes Texten nicht vor, es gibt hier immer nur einen edlen Volkskörper, zusammengehalten von der Lügenpropaganda des Westens. Handkes Trauer um Jugoslawien teilen viele, aber die meisten Ausländer wissen doch inzwischen, dass die Herrschenden in Belgrad selber dieses Jugoslawien zerstört haben. Die Tränen darüber möchte man nicht mit Milosevic vergießen, lieber mit den tapferen Männern und Frauen, die kurz vor dem Krieg ein Zeichen gesetzt und eine "Vereinigte jugoslawische demokratische Initiative" gegründet haben, vor allem gegen das nationale, antijugoslawische Getöse aus Belgrad, aber auch gegen die in den anderen Republiken, denen die Serbentümelei nur zupass kam, weil sie ihr eigenes nationales Gärtlein beharken wollten. Trauern über Jugoslawien darf man mit den Albanern Veton Surroi und Fehmi Agani, der im Krieg ermordet wurde, mit den Kroaten Ante Markovic und Zarko Puhovski, den Muslimen Ejup Ganic und Selim Beslagic zum Beispiel.Peter Handkes Missverständnis ist nicht produktiv, nein, mit seiner Parteinahme macht er vielmehr seinen menschlichen Impuls zunichte. Mit Trotz kommt man dem Krieg nicht bei. Es ist Feigheit, meine ich, dem Blick des toten kleinen Mädchens auszuweichen, und ein Journalist, der darüber in moralische Tobsucht verfällt, ist mir immer noch ein lieber als ein Literat, der sich in der gedanklichen Etappe herumdrückt. Wir müssen weiter auf den (deutschen) Dichter warten, der sich dem Geschehen wirklich stellt. "Nach A. keine Gedichte mehr?" fragt Handke. "Wenn das Gedicht Âdie Gliederung eines Aufschreis ist, dann nach Auschwitz und zu Jugoslawien gerade Gedichte, nur noch Gedichte!" Genau. Und keine solchen Prosastücke, bitte.Peter Handke: Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2000, 158 S., 36,- DM
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