"Kennen Sie sich hier aus?" werde ich gefragt und jedes Mal kann ich weniger widerstehen, diese Frage zu bejahen. Sich auskennen - dadurch unterscheidet sich Souveränität von Hilflosigkeit, der Insider vom zufällig Dazugestoßenen und der Genießer vom hungrig zum Buffet Eilenden. Die Geste des Kenners trennt Welten. Der Wille, mich auszukennen hat mich schon manchmal dazu gebracht, Fremde in die Irre zu schicken. "Die Pohlstraße", höre ich mich zum Beispiel freundlich sagen, "das ist die nächste Querstraße". Während mir im nächsten Moment einfällt, dass es die übernächste ist und das auch noch in der anderen Richtung. So sehr mich das schlechte Gewissen plagt, bin ich doch noch niemandem hinterhergelaufen, um solche Irrt&
rtümer zu korrigieren. Ich habe schon Menschen, die zum Ku´damm wollten, in die Friedrichstraße gewiesen - für einen Moment nur hatte ich falsch gedacht, aber wer vertraut einem noch, wenn man sich einmal geirrt hat? Wegbeschreibungen muss man stets mit Bestimmtheit angeben; zu sagen, der Kreuzberg liegt in dieser Richtung, nein äh, in jener ... - das wäre so, als würde man sich bei der Nennung des eigenen Geburtsdatums versprechen: Ich habe im Juni, äh nein, im September ... Mit jemandem unterwegs zu sein, der sich auskennt, kann ganz neue Perspektiven eröffnen. Und das nicht nur, was das übliche Insiderwissen darüber angeht, in welche Restaurants und zu welchem Schuster man gehen sollte, sondern in jenem Bereich, der in Handbüchern und Reiseführern nicht vorkommt und allenfalls am Küchentisch erörtert wird. Am besten erschließt sich das durch einfaches Mitgehen. Zum Beispiel mit C. ins Stadtbad. Nicht nur, dass C. aufgrund ihrer langjährigen Beobachtung den Besucherstrom zu beschreiben weiß, wie andere Menschen nur das Auf und Ab ihres Körpergewichts - wann die Kinder, wann die Senioren, wann die Sport- und wann die Spaßschwimmer zu welchen Anteilen den eigenen Badegenuss beeinträchtigen, kann sie genau vorhersagen - nein, auch der Besuch als solcher gleicht an ihrer Seite einer von wenigen Kennern ausgetretenen und deshalb einsamen Abkürzung. C. weiß genau, welche Umkleidekabinen und welche Schließfächer zu benutzen sind: bis nach hinten durchgehen und dann rechts, weil sie zum einen weniger frequentiert werden - quengelige Kinder biegen lange vorher ab - und zum anderen doch so gut einsehbar sind, dass nichts geklaut wird. Auch im Duschraum ist C. sehr festgelegt und schwört auf die eine vorne links, weil dort angeblich das Wasser am wärmsten und die Strömphase am längsten ist. Und natürlich kann C. auch im eigentlichen Schwimmbecken das geeignetste Plätzchen benennen: Längs der Trennschnur, die die Trainingsschwimmer von den gemütlich Schwimmenden scheidet, sei die Bahn, auf der man sich ohne von den einen überrannt zu werden vor den anderen den meisten Respekt verschaffen kann. Für manche Leute ist das wichtig. K.´s Spezialgebiet ist dagegen das Einkaufen, wo er mit vielerlei überraschenden Erfahrungswerten aufwarten kann. In welchem Supermarkt man am Wochenende kurz vor Ladenschluss noch am ehesten Milch oder Brot bekommt, kann er genauso angeben wie den aktuellen Warenstand bei Aldi. Sein wahres Geschick aber offenbart sich auch hier erst beim Mitgehen. Wie er das für diese Zwecke stets parat gehaltene 1-Eurostück aus seiner Jacke holt und anschließend auf dem kürzesten und effizientesten Weg durch den Supermarkt pflügt, um genau an der Kasse herauszukommen, an der die Schlange am kürzesten ist, weil eine architektonische Besonderheit es allen anderen so vorkommen lässt, als sei sie hier eher lang, mag Menschen in permanenter Zeitnot ganz neidisch werden lassen. In manchen Filialen kennt K. sogar die Geschwindigkeit der Kassiererinnen. Ein weiterer Held der schnellsten Wege durch die Stadt ist U. Sämtliche Ampelphasen, so scheint es, hat U. im Kopf und weiß deshalb genau, wann es sich lohnt, vorher schnell abzubiegen und in welchem Tempo dann weitergefahren werden muss. Die diversen Schleichwege hat er so verinnerlicht, dass er es als Beifahrer kaum erträgt, wenn jemand anders fahren will. Mit U. im Auto beginnt man sich denn auch zu fragen, ob diese ganzen Überlebenstechniken des Alltags tatsächlich noch zur Frustbegrenzung beitragen oder längst selbst eine Quelle zur Frustration geworden sind. Sich-Auskenner, die ihre Kenntnisse nicht bestätigt sehen, können sehr schnell zu sehr unangenehmen Zeitgenossen werden. Oft nämlich erweisen sich die mühsam zusammengetragenen Erfahrungswerte als nicht übertragbar. Dort, wo angeblich im Kino die besten Sitze sein sollen, habe ich stets Köpfe vor mir und neulich erst ist mein Auto genau an der Stelle abgeschleppt worden, die mir als todsicherer Geheimtipp von H. empfohlen worden war. Er hat mich kennerhaft einfach in die Irre geleitet.