Wirtschaftsformen jenseits des Kapitalismus stehen wieder auf der Tagesordnung. Wie sonst ließe sich erklären, dass die in einem Interview mit der Zeit geäußerte Sympathie des SPD-Politikers Kevin Kühnert mit der Kollektivierung bestimmter Unternehmen derart heftige Reaktionen provoziert hat? Von Dummheit und Naivität war da die Rede, die Empörten verkniffen sich auch DDR-Vergleiche nicht.
Empfindlich getroffen fühlen sich all jene, die seit Jahrzehnten vom neoliberalen Regime der Deregulierung und wachsenden Ungleichheit Nutzen ziehen. Linke Parteien und Gewerkschaften sind in die Defensive gedrängt worden – oder haben wie die SPD sogar an der Entwicklung aktiv teilgehabt. Eine Kühnert-SPD sei für die Arbeiter nicht mehr wählbar, sagte der Betriebsratschef von BMW. Das zeigt, dass auch die Betriebsräte sich teilweise eher dem Co-Management als der Vergesellschaftung von Produktion verschreiben.
Doch die große Mehrheit der Bevölkerung sieht in ungleicher Verteilung ein Problem für die Demokratie. Zuletzt erfuhren die Menschen in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008, wie die Allgemeinheit für die Rettung von Banken aufkam, ohne dafür je demokratische Mitbestimmung über das Finanzwesen zu erhalten. Angesichts der ökologischen Katastrophe wird zudem gerade von den Jüngeren nicht nur die Verteilungs-, sondern die Systemfrage gestellt: Was muss jetzt getan werden, um den Planeten zu retten? Wir sollten hinzufügen: Wie müssten die Produktion und unser Leben aussehen, damit es sozial gerecht und lebenswert zugeht?
Diese Fragen und die Debatte um Wirtschaftsdemokratie beschäftigten die Arbeiterbewegung von Beginn an. Nach der Krise blühten sie in linken Gewerkschaftskreisen wieder auf, doch erst heute öffnet sich ein historisches Fenster, um sie breiter zu diskutieren. Klar ist, dass die Antworten eines demokratischen Sozialismus im 21. Jahrhundert andere sein werden als zu Zeiten von Karl Marx. Realpolitik muss im Bestehenden ansetzen und die ökologische Krise vor Augen haben. Klar ist, dass demokratische Strukturen mit der Profitmaximierung brechen müssen und darum so radikal sind wie vor 150 Jahren.
Was ist Eigentum?
Was ist also jetzt schon möglich? Zunächst: Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch offen. Aktuelle Versuche, sie auf die soziale Marktwirtschaft festzuschreiben, sind ein panikartiger Versuch, das Comeback der Wirtschaftsdemokratie zu vereiteln. Zudem ist die Verfassung mit ihrem Sozialstaatsverständnis, der Allgemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums und durch die Möglichkeit zur Vergesellschaftung sogar für andere wirtschaftliche Strukturen ausgelegt; sie wurden nur in den vergangenen 40 Jahren für das Gegenteil genutzt.
Realistisch müssten wirtschaftsdemokratische Forderungen auf drei Ebenen ansetzen. Zunächst direkt auf betrieblicher: Gewerkschaften kämpfen seit jeher für mehr Mitbestimmung, meist bleibt diese beim wirtschaftlichen Kerngeschäft von Unternehmen aus. Dabei sind Beschäftige Experten. Stehen Betriebe vor der Schließung, sind Genossenschaften Notlösungen. Möglich ist, sie zur Regel zu machen.
Die zweite Ebene ist eine sektorale oder auch regionale. Hier zeigt sich vor allem in der Wohnungspolitik, wie viel Bewegung in die Debatte gekommen ist. Städte wie Berlin können den nötigen Wohnraum Konzernen wie „Deutsche Wohnen“ durch Enteignung gegen Entschädigung entziehen.
Wer hier an Staatssozialismus denkt, liegt falsch: Schon der Berliner Mietenvolksentscheid 2015 forderte die Gründung einer Anstalt des öffentlichen Rechts, die eigenständige Benutzer – in diesem Fall Mieterinnen und Mieter – vorsieht. Was als Priorität für die Allgemeinheit bei Sparkassen und öffentlichem Rundfunk gilt, kann auf andere Sektoren übertragen werden.
Auch Wirtschafts- und Sozialräte sind denkbar, die über die Produktion regional mitbestimmen können. Das ist nicht von der DDR, sondern aus Schweden abgeschaut. Das „Preston-Modell“, das als Vorläufer für eine Labour-Wirtschaftspolitik im Vereinigten Königreich gilt, deutet darauf hin, wie regionale Struktur- und Industriepolitik aussehen kann. Wie in einem Labor zeigt es, wie Politik fernab des Repräsentationsprinzips möglich wird.
Das beinhaltet nicht nur Investitionen, sondern auch die Beteiligung der Menschen vor Ort. Es geht um eine Gewinnbeteiligung – also Umverteilung – und Mitbestimmung, etwa bei Gesundheit, Bildung, Transport, Stadtplanung, Bankenkontrolle. Besonders de-industrialisierte Regionen würden davon profitieren. Beide Ebenen, die betriebliche wie die regionale, kommen auch mit den besten Modellen nicht aus ohne eine übergeordnete Wirtschaftspolitik, die mit dem Neoliberalismus bricht.
Wirtschaftsdemokratische Labore sind nur dann möglich, wenn sie in einem gesellschaftlichen Konsens gedeihen können, der das Allgemeinwohl zum obersten Prinzip erklärt. Dafür ist ein Bruch mit der vorherrschenden Politik nötig, vor allem innerhalb der SPD. Sowohl die „Schwarze Null“ als auch das Festhalten an Niedriglöhnen und Hartz IV stehen dem entgegen. Es braucht mehr als einen Kevin Kühnert. Wichtig sind linke Erzählungen, die realistisch sind und Menschen überzeugen.
Soziale Bewegungen und Proteste in Städten wie Berlin beweisen, dass der Druck wächst. Es gibt Mehrheiten für Enteignungen, weil die Realität zu dieser Radikalität zwingt. Doch auch die besten Mietenproteste reichen nicht aus. Sie müssen gestützt werden von Akteuren wie Parteien, Gewerkschaften, Think Tanks, die eine Vorstellung von einem anderen Wirtschaften entwickeln und selbst durchsetzen.
Ein solches Gesellschaftsprojekt müsste die Vorstellung von Eigentum verändern. Und zwar so, dass ökonomische Planung nicht bloß von privaten auf staatliche Eliten übergeht. Es geht um die Gründung von „Gesellschaftseigentum“. Macht und Ressourcen lägen dann in Händen normaler Menschen, durch neue Formen der demokratischen Mitbestimmung und des öffentlichen Eigentums auf der lokalen, der regionalen und der nationalen Ebene.
Kommentare 3
🎈Warum fand im Taumel des Vereinigungsorgasmus keine einzige leise Stimme Gehör, die darauf hinwies, dass Ostdeutschland sich mit Wucht in das offene Maul Westdeutschlands hineinwarf?🎈
Ächz. Hätte Westdeutschland an Ostdeutschland eine Schuld abbezahlen müssen? Die armen Verwandten aus dem Osten großzügig für ihr erlittenes Leid abfinden? Kann der Osten dem Westen überhaupt dessen Erfolg verzeihen?🙈
Danke für diese exemplarische Spießer-Blüte.
<Kollektivierung ist nur ein Aspekt.> Richtig. <Wir brauchen mehr Demokratie in der Wirtschaft.> Ja, schon, aber wir brauchen mehr als nur mehr Demokratie in der Wirtschaft. <Das Grundgesetz gibt das her>, ja, aber was ist ein Grundgesetz wert, das mit dem demokratischen Sozialismus vereinbar ist wie mit dem neoliberalen Kapitalismus?
Zunächst kleine Retouchen am Text.
<Doch die große Mehrheit der Bevölkerung sieht in ungleicher Verteilung ein Problem für die Demokratie.> Das ist insofern nicht gut formuliert, als die Demokratie - die ein Mittel zum Zweck der guten Gesellschaft sein soll, oder als substantielle Demokratie ein Element einer solchen - zum Selbstzweck erhoben wird. Eine gute Gesellschaft kann nur eine sein, in der Ungleichheit nur in einem sozialverträglich niedrigen Ausmaß existiert. Allerdings ist auch absolute Gleichheit kein substantielles Ziel der Gerechtigkeit.
<wie die Allgemeinheit für die Rettung von Banken aufkam> Die Rettung der Banken wie die Rettung von Betrieben wäre kein gesellschaftliches Problem, wenn die Banken oder Betriebe gemeinnützige Unternehmen wären. Was passiert ist, ist die Rettung von Privateigentum (-kapital), Profit, der nicht einmal kapitalistisch gerechtfertigt war. Die Rettung kleiner Spareinlagen war das Alibi des intelligenten Kapitalismus, der den Schein erweckt, daß alle, Großinvestoren wie Kleinsparer, in dem einen kapitalistischen Boot sitzen.
<Dabei sind Beschäftige Experten.> Schön wärs. Ich denke nicht, daß viele Beschäftigte bei VW von den Manipulationen der Abgasmessung wußten, und wenn, wäre es ein Zeichen, wie weit die Korruption in die Arbeiterschaft hineinreicht. Ich denke nicht, daß die Beschäftigten in der Rüstungsindustrie wissen, was die Zwecke sind, für die ihre Produkte zur Anwendung kommen, was sie alles anrichten, an wen sie verkauft werden, wer geschmiert wird/werden muß usw. Nein, die Beschäftigten sollten etwas mehr Experten sein, allerdings nicht nur für das Schräubchen, das sie drehen. Sie müßten ergebnisoffen miteinander diskutieren können, ob und wie man solche Produktion braucht, und in diesem „man“ müßte das Allgemeininteresse zur Geltung kommen. Sonst ist Mitbestimmung nur der Kampf um die Berücksichtigung von Partialinteressen. - Daß alle Experten für alles sind, sein können, ist natürlich Unsinn. In einer entwickelten arbeitsteiligen Gesellschaft ist das Wissen stark fragmentiert. Da muß die Solidarität das notwendige Vertrauen und die Kompetenz, nach bestem Wissen und Gewissen im Allgemeininteresse zu handeln, liefern.
<Es geht um eine Gewinnbeteiligung – also Umverteilung – und Mitbestimmung, etwa bei Gesundheit, Bildung, ...> Eher nicht. Das ist zumindest äußerst mißverständlich formuliert. Gerade Gesundheit und Bildung müßten von Expertensystemen, die in die Solidargesellschaft eingebunden sind, sich nicht verselbständigen können, sich gegenüber der Allgemeinheit rechenschaftspflichtig fühlen, geführt werden.
Warum lege ich hier bei einem vergleichsweise guten Artikel Formulierungen auf die Goldwaage? Ich denke im Unterschied zu manchen hier in der FC, daß nicht der Worte genug gewechselt sind und man zur Tat schreiten könne, unsere Vorstellungen und mehr noch die in der Bevölkerung sind noch zu unklar, was wünschbar und machbar ist, und von einer Mehrheit getragen umgesetzt werden kann. Ich setze jedenfalls voraus, daß ein selbstbestimmter Eingriff in die bestehende Ordnung ein wenn nicht von allen, so doch von einer großen Zahl in klarem Bewußtsein erfolgen muß.
Ja, der Druck wächst. Und ja, die Vorstellung von Eigentum muß sich ändern. Diesen Schlußfolgerungen kann man folgen. Das reicht aber nicht, um die Systemfrage zu stellen, erklärt noch nicht, was wie und warum die Bürger hindert, den notwendigen Wandel in Angriff zu nehmen, da sehe ich ein Defizit in der Argumentation. Da bleiben die Aktionisten Antworten schuldig.
Die vorliegende Argumentation ist etwas unterbestimmt, weil sie Wunsch und Wirklichkeit nicht genug auseinanderhält, letztendlich nicht die Wirklichkeit als Systemwirklichkeit, sondern als einen steuerbaren Zusammenhang mit vielen unabhängigen Stellschrauben ansieht. Lethe hat darauf geantwortet (s.o. den zweiten Kommentar), daß, wenn man die Stellschrauben losläßt, sich sehr schnell wieder der alte Zustand herstellt. Das ist bedingt richtig, mit dem typischen Letheschen Pessimismus, daß aufgrund der menschlichen Natur kein anderes System möglich sei. Wäre diese Voraussetzung gegeben, wäre der Kapitalismus die der menschlichen Natur angepaßteste Gesellschaftsform, die mit dem geringsten Maß an Zwang auskommt, die einzig mögliche Alternative eine Moral- oder Vernunftdiktatur, ein moralisches Zwangssystem, das nie die Zustimmung der Allgemeinheit erlangen und daher nur von einer kleinen Minderheit, die von ihm profitiert und dadurch hinreichend motiviert ist, gewaltsam aufrechterhalten werden könnte.
Die Linke geht (definitorisch, sonst macht der Begriff keinen Sinn) davon aus, daß die Menschen ihrer Natur gemäß die Wahl haben, in unterschiedlichen stabilen Sozialordnungen zusammenleben zu können. Der Kapitalismus ist nur eine schon ziemlich komplexe Sozialform unter anderen. Und neben der bürgerlichen und der emanzipativ-sozialistisch-kommunistischen ist ua auch eine rechte Sozialform lebbar, in der von der Dummheit und Schwäche des Menschen ausgegangen und ihm eine autoritär-paternalistische Herrschaft als die angemessenste, dem Stabilitätsbedürfnis am meisten entgegenkommende vorgeschrieben wird. Die Linke unterstellt dagegen, daß eine solidarische, selbstbestimmte Gesellschaftsordnung möglich ist. Es gibt noch das zeitweise(?) von Habermas favorisierte und in der Systemtheorie formulierbare Konstrukt, daß die Wirtschaft kapitalistisch, technisch-funktional, die Sozialordnung institutionell und als Orientierungsinstanz kommunikativ-pragmatisch, und auf der Ebene der Selbstreflexion emanzipativ sich organisiert, gewissermaßen in drei gesellschaftlichen Subsystemen, in technischer, normativer und autonomer Vernunft.
Die Linke jedoch bestreitet die Möglichkeit, daß die kapitalistische Sozialordnung mit einer solidarisch-selbstbestimmten Sozialordnung kompatibel ist, muß daher auf einem Systemwechsel bestehen. Das heißt aber, daß nicht nur die sich im relativen Gleichgewicht befindlichen objektiven Strukturen (zB Privateigentum, Vertragsrecht) sich ändern müssen, sondern auch die ideologischen Denkstrukturen, die mit der gesellschaftlichen Objektivität korrespondieren (mehr oder weniger im Gleichklang sind). Die Veränderung ist so schwierig, weil jede lokale oder partikular-strukturelle Änderung von der Übermacht der systematischen Rückstellkräfte des eingespielten Systems leicht eingefangen werden kann. Jeder lokale oder partikular-strukturelle Protest rennt gegen dicke und erstaunlich elastische Mauern. Solange der Profit das Kriterium des Erfolgs ist, wird jedes non-profit-Unternehmen ohne schon vorhandene massive Solidarstrukturen an der Kapitallogik, wird jeder politische Protest an den kapitalistischen „Sachzwängen“ scheitern.
Jede gravierende, irreversible Änderung des Wirtschaftssystems wird, sosehr sie auch das Ziel der Genesung einer sozialverträglichen Wirtschaftsweise hat, zunächst eine Wirtschaftseinbruch bewältigen müssen, ohne solidarisches Vertrauen in die Möglichkeit eines Aufbruchs in eine bessere Zukunft wird die Durststrecke der wirtschaftlichen Reorganisation nicht durchgehalten werden können. Beispielsweise die anstehende grüne Revolution. Sie ist ohne die Einbettung in die soziale Revolution, also das Konzept der selbstbestimmten Solidargesellschaft, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ohne das kontrafaktische kritische Bewußtsein des Ganzen, der Systemzwänge und der Möglichkeiten und Risiken des Ausstiegs aus denselben sind die Aussichten auf eine erfolgreiche Revolutionierung sehr gering. Solange wissenschaftliche Einsichten lobbyistisch konterkariert werden können, wird sich kein Vertrauen in Wissenschaft, Medien und Politik bilden können, das für das Wagnis einer präzedenzlosen Neuordnung vielleicht unabdingbar ist.
Das klingt nicht nur nach dem Dilemma von der Henne und dem Ei. Das ist das reale Dilemma einer gesellschaftlichen Revolution, die nicht auf einen Reset bei Null, also einen vorgängigen Totalzusammenbruch, die große Katastrophe setzt. Sie muß transformieren und konvertieren, großzügig und radikal sein, sie muß an den Menschen ansetzen können und ihre Selbstveränderung befeuern. Die Notwendigkeit einer solchen Revolution wird immer dringlicher, das heißt aber noch nicht, daß sie schon real möglich ist, und es ist leider auch nachvollziehbar, daß viele vor dieser Herkulesaufgabe kapitulieren, das erklärt die objektive Schwäche der Linken.