Hier riecht es nach Asien, nach dem untergehenden alten Asien. Dünnbeinige Chinesen in kurzen Hosen brutzeln an ihren rollenden Garküchen; vor den Tempeln qualmen Räucherstäbe in allen Größen. Die Altstadt im malaysischen Penang atmet diese tropische Melange, Moder, Fäulnis, die Ausdünstung alter Gemäuer. Wohlgenährte Ratten huschen durch die Kanalisation. An den Wänden dämmriger Coffeeshops hängt Zigarettenwerbung aus dem Blech der dreißiger Jahre.
Polternd verbarrikadiere ich abends das Haus. Das Poltern ist unvermeidlich, die Tür nahezu drei Meter hoch, sie hat das Gewicht und die Ernsthaftigkeit einer Zugbrücke. Dies ist ein chinesisches Haus, es ist über hundert Jahre alt und nicht dafür gemacht,
gemacht, allein gelassen zu werden: Wie eine Festung wird es von innen verschlossen. Zwei massive Planken verriegeln die Tür; sie trägt ungezählte Schichten weinroten Lacks, darauf steht in goldenen Schriftzeichen eine konfuzianische Gleichung: Wenn die Familie gedeiht, gedeiht das Land. Die konfuzianische Gleichung blickt nun abweisend auf die dunkle Gasse hinaus.Dem eigenen Verfall zusehenArmenian Street 120, Penang. Die Fassade in verwaschenem Indigo-Blau; das Blaue Haus, für vier Monate wohne ich hier, ein Zaungast, ein Fremdkörper, befristet geduldet. Ausländer ziehen nur als Touristen durch die Altstadt, sie wohnen nicht hier, hier wohnt überhaupt niemand, der Geld hat. Einheimischen aus der Mittelschicht sind die Gassen kaum mehr vertraut, die Gegend gilt als ärmlich, schmutzig, kriminell.Vor der Haustür liegt ein indischer Junkie, ein magerer, dunkler Junge, er wird die Nacht wieder auf dem Kachelboden unter den Arkaden verbringen; seine leeren Augen blicken durch mich hindurch. Hüte dich vor den Junkies, lautet eine eherne Regel der Altstadt, sie stehlen, sie brennen das Haus ab - was immer passieren mag, es waren die Junkies. Sie stehlen angeblich sogar die grünen Plastikmülltonnen, deshalb steht die wertvolle Tonne leer im Haus und der Müll türmt sich in Tüten am Straßenrand. Penang ist eine Insel vor Malaysias Westküste, multiethnisch und heute mehrheitlich von Chinesen bewohnt. Die Briten gründeten hier eine Handelsniederlassung, 1786, noch vor Singapur. Die Straßennamen der Altstadt erinnern an die Immigrantenströme einer Zeit, als Globalisierung noch zu Fuß ging, als Einwanderer und Durchwanderer die Handschrift ihrer Kulturen und Religionen hinterließen. Jene Armenier, die der Armenian Street den Namen gaben, kamen als christliche Händler aus Persien. Um die Ecke bauten sich indische und arabische Muslime ihre je eigenen Moscheen, in Sichtweite der drallen, barbusigen Fruchtbarkeitsgöttinen auf dem Dach eines Hindu-Tempels.Kulturerbe und Boomtown - Penang verkörpert eine exemplarische Schnittstelle von Zeiten und Mentalitäten. Anderthalb Jahrzehnte lang - bis 1997 - war dies eine der besonders rasant entwickelten Regionen Asiens. Ausländische Investitionen, vor allem in der Halbleiter-Produktion, verhalfen zu zweistelligen Wachstumsraten; Hochhäuser schossen aus dem Boden, Apartmentburgen, Shopping-Malls. 600.000 Menschen leben auf der Insel.So ist das Erbe eingekesselt, gefährdet, teils schon zerstört: Eine Kollektion von Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die zu den bedeutendsten in Südostasien zählt. Elegante viktorianische Villen in palmenbestandenen Gärten verleihen Penang heute noch ein Flair von Grandezza. Doch so manches Herrenhaus sieht hohläugig dem eigenen Verfall zu, in andere zogen Nachtclubs mit wummernder Disco; die Fassade lila zu pinseln verbietet kein Denkmalschutz. Nur in Einzelfällen fanden sich reiche Gönner für eine stilgerechte Restauration; Penangs chinesische Millionäre investieren lieber in Penthouses oder den Zweit-Mercedes.Einzigartig ist Penangs koloniale Alltagsarchitektur: Komplette Straßenzüge mit zweistöckigen sogenannten Shophouses. Im Grundriss wie ein extrem schmales Handtuch, unten meist Laden oder Werkstatt, davor schattenspendende Arkaden. Eine tropentaugliche Mischung anglo-indischer, chinesischer und portugiesischer Elemente.Als stürze der Himmel hineinDas Blaue Haus ist ein solches Shophouse. Wer es betritt, lässt die grelle Hitze der Straße hinter sich, wird von einer kühlen Dämmrigkeit empfangen, die sich auf überraschende 40 Meter Länge dehnt. Nachts durchmisst eine ansässige Fledermaus die Strecke, vorbei an filigran geschnitzten Trennwänden und intarsiengeschmückten Holzsesseln, die eine konfuzianisch gerade Sitzhaltung verlangen. Tagsüber fällt durch zwei offene Innenhöfe Licht ins Haus; die Chinesen nennen diese Höfe "Luftbrunnen" oder "Himmelsbrunnen", sie folgen den Regeln von Feng Shui. In der Tat hört es sich an, als stürze der Himmel ins Haus, wenn ein heftiger Regenguss auf den Steinboden im Erdgeschoss prasselt.Lange vor Morgengrauen reißen mich wimmernde Gebetsrufe aus dem Schlaf: die zwei Moscheen in der Nachbarschaft. Das Haus für eine Festung zu halten, erweist sich in akustischer Hinsicht als Irrtum. In den Fenstern keine Scheiben, bloß Lamellen, und die Wände im Haus aus dünnem Holz mit großen Öffnungen: natürliche Ventilation statt Klimaanlage. Wer so lebt, genießt wenig Privatsphäre. Wenn der Nachbar nach chinesischer Sitte morgens seine verschleimte Kehle klärt, haben viele Anteil. Und kaum hat sich nach dem Aufruf zum Frühgebet noch einmal ein kleiner Schlaf eingestellt, beginnen die Inder zwei Häuser weiter mit dem Platthauen von Kakaobüchsen. Sie arbeiten mit der Unermüdlichkeit von Geringentlohnten für einen Recycling-Betrieb, und aus unerfindlichen Gründen beginnen sie frühmorgens mit den Kakaobüchsen, während sie nachmittags mit lautlosen Mundbewegungen ausgemusterte Reissäcke zählen. Altes muss einen bezifferbaren Wert haben; eine Kakaobüchse mag so ein zweites Leben bekommen, ein Herrenhaus das Todesurteil. Als ärgster Feind des Kulturerbes erwies sich allerdings in den zurückliegenden Jahren der Bodenpreis. Wachstumseuphorie schraubte ihn höher und höher, mancher Hausbesitzer bekannte mit Tränen in den Augen, nun müsse er die Familienvilla leider opfern, der Boden sei einfach zu viel wert."Unsere Gesellschaft ist sehr profitorientiert; das ist typisch für ein sich entwickelndes Land", sagt der Kaufmann Tan Chong Kheng. Er gehört zu einer kleinen Schar von Denkmalschutz-Enthusiasten; altes Holz zu retten, ist sein Hobby. Wenn ein Gebäude abgerissen wird, schafft Herr Tan Schnitzwerk, Türen und Fensterläden beiseite. "Das Alte wird bei uns nicht geschätzt", sagt er bedauernd, "nur Neues hat Wert". Die Verachtung für traditionelle Materialien, Stile, Farben zeigt sich in den meisten malaysischen Wohnzimmern: Kunstledersofa, Rauchglastisch, Schleiflack-Schrank - Teakholz- und Rattanmöbel, die sind für Ausländer. Nur aufgrund deren Wertschätzung wird manches Alte kalten Blicks rehabilitiert.Vorn der rote HausaltarWeil der morbide Charme von Penangs Altstadt westliche Besucher fasziniert, setzt die Stadtverwaltung auf Heritage-Tourismus, auch bemüht sie sich bei den Vereinten Nationen um die Anerkennung Penangs als Weltkulturerbe. Die UN erwarten als erstes ein Denkmalschutz-Gesetz und ein Heritage-Management-Konzept; an beidem doktern die Stadtoberen seit Jahren lustlos herum. Es fehlt ihnen schlicht an Liebe zum Sujet: Die wohlhabenden Nachfahren der einst mittellosen Immigranten sehen in den Shophouses nur die Relikte jener ärmlichen Vergangenheit, der sie durch Glück und harte Arbeit entronnen sind.Über der Prangin-Gasse liegt geisterhafte Stille. An jedem zweiten Haus hängt ein Schild: "to let". Türen und Fenster vernagelt mit Latten, die Rollgitter zusätzlich mit schweren Ketten gesichert: Damit Obdachlose und Junkies nicht den Leerstand füllen. Vor einigen Jahren wohnten noch 60.000 Menschen in der Altstadt, jetzt nur noch 25.000. Jahrzehntelang waren die Mieten der 12.000 Altbauten auf einem Niedrigstniveau eingefroren, mit zwiegesichtigen Folgen: Die Eigentümer ließen die Häuser verkommen; andererseits überlebte derart viel Kleingewerbe. Als die Mietbindung fiel, schnellte manche Miete um 1.000 Prozent nach oben. Keine abfedernde Stadtplanung mäßigte den Kapitalismus pur. Viele Altstadtbewohner kannten kaum ihre minimalsten Rechte, bezahlten mit dem letzten Geld einen Anwalt, der zugleich ihren Gegner, den Vermieter, vertrat.Aus einem verlassenen Haus dringt Vogelgezwitscher vom Tonband. Es lockt Schwalben an, sie sollen im verwaisten Gemäuer nisten: Schwalbennester sind eine teure chinesische Delikatesse. Es ist profitabler, Vögel zu beherbergen als Menschen.Asiatisches Monopoly: Mehr als die Hälfte der Altstadt ist in den Händen von nur 20 Eigentümern. Allein 200 Shophouses gehören dem Khoo-Clan; im frühen 19. Jahrhundert eine Lobbygruppe südchinesischer Einwanderer, alle mit dem Familiennamen Khoo. Bald lenkte der Clan eine mächtige Geheimgesellschaft; die Unterwelt lieferte sich Kämpfe in Penangs Gassen. Jetzt stehen alerte junge Vermögensverwalter an der Spitze der einstigen Gang; sie ließen den Clantempel - Penangs berühmteste Touristen-Attraktion - aufwändig renovieren und vertrieben aus den umliegenden Häusern die Mieter. Die hießen alle Khoo, das nützte ihnen nichts; ein Boutique-Hotel versprach mehr Rendite als der Solidargedanke des Clans.Kulturerbe, sagen die Richtlinien der UNO, heißt Living Heritage, eine Altstadt mit gewachsenen Communities, seien sie ethnisch, religiös oder gewerblich. Der Penang Heritage Trust arbeitet nach diesem Konzept: eine Bürgerinitiative von Architekten, Historikern, Künstlern, Publizisten, einig im Bemühen, sterbende Häuser und sterbende Berufe vor dem kalten Wind des Marktes zu schützen. Eine wohlmeinende Bildungselite, international vernetzt - aber vom sozialen Mikrokosmos der Altstadt-Bewohner weit entfernt.Darin liegt eine gewisse Ironie: Diejenigen, die Heritage leben, verstehen am wenigsten davon. Die Altstadt wird heute notdürftig bewahrt durch den Konservatismus einer chinesischen Unterschicht, in der Malaysias Modernisierung noch nicht Fuß gefasst hat. Mit Denkmalschutz haben die Leute nicht viel im Sinn. Ihr Leben soll bleiben, wie es ist - oder wieder so werden, wie es war, und wenn etwas repariert werden muss, dann bitte billig. Der Heritage-Berater mit seinem Sortiment von Dachziegel-Proben ist nicht gern gesehen.Abendlicher Streifzug durch die Gassen: Alle Türen stehen offen, der trägen Brise wegen. In jedem Häuschen vorn der rote Hausaltar mit blinkenden Lämpchen, weiter hinten ein kreischender Fernseher, irgendwo zwischen den Utensilien ein Moped, zu wertvoll, um es dem Dunkel der Straße zu überlassen. Manche wohnen in ihrem Warenlager, die chinesische Haltung zur Arbeit verdeutlichend; ein Sargmacher schläft neben den Särgen, sie schützend. Und hoch oben an der Wand in jedem Haus, knapp unter der Decke, hängt gerahmt der Ahn, der männliche Vorfahr; die vergilbte Schwarz-Weiß-Fotographie stammt aus einer Zeit, als die Kamera den Menschen noch Würde verlieh.
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