Ich will andere Erinnerungen, um eine andere Gegenwart zu haben«. Jeder Psychiater hätte den Satz, den der Erzähler aus Michael Kleebergs neuestem Roman Ein Garten im Norden einem Antiquar entgegengeschleudert, der sich mit ihm über das Entstehen seines Buches über Deutschland streitet, als typischen Fall von Derealisierung, Verdrängung, Eskapismus aus der grauenvollen Erinnerung diagnostiziert. Ließe ihn jemand in der Debatte um das Berliner Holocaust-Mahnmal fallen - seine Exkommunikation aus dem Erinnerungsdiskurs wäre ihm sicher. Warum lassen wir uns das Kontrafaktische in der Literatur gefallen?
Vielleicht, weil die Verzweiflung über die schreckliche Heimat Deutschland so tief sitzt? Der 1959 in Stuttgart geborene Autor Michael Kleeberg begn
chael Kleeberg begnügt sich in seinem jüngsten Werk nicht damit, einmal mehr aufwendig den Heineschen Schlaf rauben zu lassen. Er will es einmal andersherum wissen. Seinem Helden Albert Klein, der in den neunziger Jahren Frankreich nach einer mißglückten Liebe verläßt und in das verhaßte Deutschland der Supermärkte, Autobahnabfahrten und GoreTex-Spießer zurückkehrt, läßt er von einem Prager Antiquar ein leeres Buch schenken. In dieses Buch schreibt er als Roman sein Wunschbild eines anderen Deutschland. Eines, wie es hätte sein können. Verkörpert wird es durch die Person des ebenfalls Albert Klein heißenden Bankiers der Zwischenkriegszeit, der sich vom Hasardeur zum humanistischen Mäzen wandelt. Wichtiger als diese Person, das alter ego des deutschlandgeschädigten Autors, ist der kunstvolle Park, den der Finanzmagnat sich aus seinen Spekulationsgewinnen im Herzen Berlins erbauen läßt und zum Treffpunkt der intellektuellen Elite Europas macht. Ziel ist eine demokratisch-pazifistische Erneuerung. Hier läßt Kleeberg unbekümmert Briand und Stresemann, Thälmann und Lasalle aufeinandertreffen. Der kleine, exterritoriale Kosmos ist Sitz einer Stiftung namens »Zirkel um die Welt«, die jungen Leuten zur Bewußtseinserweiterung ein Stipendium für eine Weltreise vergibt und »Planetarische Archive« zur Dokumentation der Weltkulturen unterhält. Was wie ein Märchen klingt, hat es wirklich gegeben. Geschaffen wurde der Park von dem französischen Juden Albert Kahn. Als Symbol steht es für Weltoffenheit, Verständigung und die ihn bevölkernde Gesellschaft für die Lebensform einer fruchtbaren Dialektik. Kleeberg hat alles nur von Boulogne - wo man den Park heute noch besuchen kann - ins deutsche Berlin verlegt - nicht der einzige Akt von Souveränität gegenüber einem verführerischen Material, hinter dem man sich allzuleicht verstecken kann.Den Roman treibt vor allem die grundstürzende Frage nach der Wirkmacht von Literatur mit einer geschichtsbegeisterten Vehemenz an, die man bei den vielen kleinen Post-89er-Ich-Nabelschauen und Kleinstgeschichten derzeit nicht mehr für möglich gehalten hatte. Er spielt mit hohem Einsatz. Seine Geschichte ist vollgestopft mit Philosophie und Politik und mit einem, penetrant zu exemplarischen Gut-Deutschen umgepolten Personal, das jeden Ungeübten im Nu unter sich begraben hätte: Der Philosoph Heidegger, Berater Kleins, dem alles Dunkle, Pathetische zuwider ist und sich in der Nazizeit um die Demokratisierung der deutschen Universitäten bemüht, ist so ein Fall. Oder das SPD-Mitglied Richard Wagner, der der 1848er-Revolution treu geblieben und zum ästhetischen Sinnbild, einer dem Licht und dem dialogischen Prinzip verpflichteten Musik geworden ist.Kleeberg gebärdet sich wie ein literarischer Selbstmörder. In nahezu jedem Halbsatz gibt er sein moralisches Ziel eines »anderen Deutschland«, voll von Licht, Schönheit und Verständigungsbereitschaft preis. Doch behende, ja mit bewundernswert undeutscher Leichtigkeit, Esprit und elegantem Tempo jongliert der Ich-Erzähler, der zugleich Erzähler ist, den waghalsigen Faction-Cocktail durch Zeit und Raum, ohne ein einziges Mal abzustürzen. Ein ausgezeichnet geschriebener Roman.Bietet Kleebergs Traum-Deutschland eine billige Entlastung aus dem deutschen Dilemma durch eine naive Utopie? Gegen seine Wunschbildkulisse wirkt die Unentrinnbarkeit des Jahres 1933 nur um so deutlicher. Und er erliegt nicht der Versuchung, sie gegen diese Realität siegen zu lassen. Die Nazis zerstören den Park. Die Spur des philanthropischen Bankiers verliert sich in Prag, dem Ausgangspunkt des Romans, in das er mit seiner Geliebten flieht - ein kunstvolles Spiegelbild der Suche des Heimkehrers Klein nach seiner alten Jugendliebe Bea, der bei einer deutsch-deutschen Geschäftemacherei im Wendeberlin auf das Grundstück stößt, auf dem einst Kleins Garten stand. So legt er seine eigene jüdische Familiengeschichte frei. Der Kreis schließt sich. Die bissigen Streits mit dem Antiquar über die hartnäckige Geschichtskorrektur, brechen das der Realität entlehnte Traumbild immer wieder auf, reflektieren die Sackgassen des Konstruierens und geben dem Werk eine postmoderne Gewitztheit.»Was war geschehen, daß dieses Dornröschenschloß des Mittelalters zum Abschaum der Welt geworden war?« Die Frage nach den Gründen für die Mutation des romantischen Deutschland des Mittelalters zum »erratischen Block« und »blutigen Riesenbaby« kann auch Kleeberg nicht beantworten. Ob die deutsche Charakterschwäche unbedingt am französischen Wesen genesen kann, wie der frankophile Kleeberg/Klein unterschwellig suggeriert, sei dahingestellt. Schließlich hat Albert Kahn seinen Garten nicht ohne Grund ins heimatliche Frankreich gesetzt. Doch daß der von Kleeberg so eloquent durchinstrumentierte romantische Traum der geistigen Offenheit und der weiten Horizonte, selbst wenn er elitäre Züge trägt, zu einer praktischen Überlebensnotwendigkeit geworden ist, wer wollte das nicht nur im realen Deutschland unserer Tage bestreiten?Michael Kleeberg: Ein Garten im Norden. Roman, Ullstein-Verlag, Berlin 1998, 590 S., 48,- DM