Vor ein paar Jahren war ich zu einem inoffiziellen Treffen von Vertretern des öffentlichen Sektors geladen; ich saß mit Botschaftsangehörigen, Ministerialbeamten, Staatssekretären zusammen – eine kleine Runde in vertraulichem Gespräch. Auch kritische Fragen waren erlaubt, wurden sogar begrüßt, etwa die, warum Lobbyisten, die offensichtlich gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen, von Seiten der Staatsbediensteten, die doch das Allgemeinwohl zu fördern hätten, so wenig entgegengesetzt werde. Zur Antwort bekam ich von einem erfahrenen Beamten aus dem höheren Dienst, den meine ernstgemeinte Frage zu belustigen schien: Sie sind besser organisiert.
Das asymmetrische Kräfteverhältnis zwischen einer Minderheit, die
t, die über überproportionale Anteile institutioneller, ökonomischer und medialer Macht verfügt, und einer immer einflussloseren, von Entscheidungsprozessen ausgeschlossenen Mehrheit beschäftigt auch Raul Zelik und Elmar Altvater. Über zwei Monate hinweg haben sich der Politikwissenschaftler, Publizist und Schriftsteller Zelik, geboren 1968, und der eine Generation ältere Politökonom Altvater, Gründungsmitglied der Grünen und heute im wissenschaftlichen Beirat von Attac, zum Gespräch getroffen, um der Frage nachzugehen, ob der Kapitalismus an eine systemische Grenze geraten sei und welche Alternativen, zwanzig Jahre nach der propagierten Alternativlosigkeit und dem seither herrschenden Utopievakuum, entwickelt werden können, um die Überzeugungskraft des Bestehenden zu brechen und dem Mangel an utopischem Denken abzuhelfen.Was ja nichts anderes bedeutet als Szenarien der Veränderung zu entwickeln. Beide sehen jetzt, in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise, den Augenblick gekommen, eine Wende einzuleiten, „die den ökologischen Herausforderungen Rechnung trägt und solche Arbeitsplätze schafft, die eine Befreiung von der Arbeit, mehr arbeitsfreie Zeit und soziale Sicherheit ermöglichen“.Ohne ArbeitEs ist zunächst also eine Kritik der bestehenden Wirtschaftsordnung, die da, in fünf Kapiteln gebündelt, erschienen ist und die nicht nur an einem Grundpfeiler des Kapitalismus, sondern an dem Fetisch unserer Gesellschafts- und Sozialordnung rüttelt – der Arbeit. Denn nur durch sie – und die Ausbeutung der Natur – wird jener Mehrwert produziert, der als Profit für die Unternehmen verteilt werden kann.Als zentrales Ziel nicht kapitalistischen Wirtschaftens bezeichnet Altvater daher, Marx’ Grundrisse von 1857 zitierend, die Befreiung von der Arbeit und die Erzeugung freier Zeit: „Zeitwohlstand ist die Zielsetzung einer Ökonomie des Glücks, einer Ökonomie, die den Menschen und nicht die Kapitalverwertung in den Mittelpunkt stellt.“Um dieses Ziel zu erreichen, träumen Zelik und Altvater, wie der frühbürgerliche Ökonom John Stuart Mill, von einer Überführung der galoppierenden Wachstumsideologie in eine Stagnationsphase – weniger zum Zwecke der Kontemplation, wie Mill sich das vorstellte, sondern um dem kapitalistischen Zwang zu begegnen, immer mehr Arbeit verwerten und immer größere Mengen an Gütern produzieren zu müssen – unter immer größerem Ressourceneinsatz und der immer weiter reichenden Zerstörung der Ökosysteme.Die Abwendung von den Fetischen Vollbeschäftigung und Wachstum schließt dabei Innovation keinesfalls aus, im Gegenteil – geht es doch darum, höhere Lebensqualität zu erzeugen und dabei weniger an Energie, Material und Arbeitskraft einsetzen zu müssen, was allein mittels Verbesserung von Wirkungsgraden zu erreichen ist.Dass uns die Arbeit ausgeht, dieses Gespenst, das eine vom Neoliberalismus angetriebene Politikerkaste bei jeder Gelegenheit an die Wand malt und dabei so tut, als stünde unser aller Untergang bevor, ist nicht zu befürchten. Im Gegenteil: Die Hoffnung, die die Erhöhung der Produktivität einmal geweckt hat, lag ja nicht im Verschwinden der Arbeit – was ohnehin eher eine Reduzierung heteronomer, also fremdbestimmter Arbeit bedeutete –, sondern in der Verteilung: der von Arbeitszeiten und des Kontingents freier Zeit ebenso wie der von Profiten und Vermögen. Nur wenn letztere nicht privatisiert werden, muss auch die Arbeitszeitverkürzung nicht mit dem Abrutschen in prekäre Lebensverhältnisse und somit dem Verlust gesellschaftlichen Ansehens bezahlt werden.Vorstellbar wäre da zum Beispiel eine höhere Besteuerung, und zwar aller Einkommensarten – wodurch heute noch privat finanzierte Leistungen ganz oder zu großen Teilen öffentlich getragen werden könnten: Kinderbetreuung etwa, Besuch von Bildungs-, Kultur- und Sporteinrichtungen, Nutzung des öffentlichen Verkehrs, Gesundheits- und Pflegesysteme.Eine solche Umverteilung aber würde viel tiefer greifen und umfassender sein, als die zurzeit doch recht wohlfeile Kritik am kapitalistischen System und die zaghaften Regulierungsversuche auf Konzern- und Bankentrustkosten ins Auge fassen.Anders als behauptet gibt es in der jetzigen Krise ja keine klar definierbare gute (der einfache Bürger) und böse Seite (die Kapitalisten), wird dabei doch unterschlagen, dass beide Gruppen auf demselben Auge blind sind – dass sie die Folgen ihres Handelns solange wie möglich ignorieren und sich unsolidarisch verhalten, also auf ein Mehr bedacht sind, auch wenn das bei anderen ein Weniger bis zur totalen Verarmung nach sich zieht.Die Gier ist nicht nur auf Seiten der Finanzspekulanten zu finden; auch die Mittelschichtler sind von ihr ergriffen – geben Geld aus über ihre Verhältnisse und leben auf Pump, geleitet von der Wunschvorstellung, ihr wachsender Wohlstand würde aus dem Nichts erschaffen; drücken die Kosten und fragen nicht nach dem Preis – dem für die Umwelt wie für die Gesundheit, die eigene wie die anderer.Und als Kleinanleger reicht es ihnen nicht mehr, das Geld auf dem Sparbuch zu haben oder in Staatsanleihen zu investieren, stattdessen spekulieren sie, obwohl sie in den allermeisten Fällen die gewählten Finanzprodukte nicht durchschauen, und sehen sich nun geprellt. In ihnen nicht immer nur die Opfer zu sehen, sondern sie als Täter zu begreifen, von derselben Habgier getrieben wie die vielgescholtenen Finanzhaie und von denselben Finanzmarkregeln profitierend, dazu braucht es, wie es scheint, Mut.Auch Altvater und Zelik haben ihn nicht, brechen ihre Kritik jedenfalls nur beiläufig und halbherzig auf den Durchschnittsegoismus herunter – etwa indem sie fordern, wir Bewohner des Westens müssten unsere ökologische Schuhgröße auf afrikanisches Niveau verringern, jedoch gleich wieder einlenken, das bedeute keinesfalls, dass wir auf Errungenschaften des „guten Lebens“ verzichten müssten. Womit wieder mal der westliche Wohlstand gemeint ist – nur fragt sich: Warum eigentlich nicht?Geradezu fatal, aber in derselben Logik befangen, mutet da am Ende des Gesprächs die Einschätzung Raul Zeliks an (Peter Sloterdijks Buchtitel widersprechend), der Einzelne müsse sein Leben nicht ändern, darüber ließen sich die Verhältnisse nicht modifizieren. Es ist ja richtig: Globalisierung bedeutet, dass sich nahezu kein Problem mehr räumlich und zeitlich begrenzen lässt; es heißt aber auch, dass wir uns der Erkenntnis, dass das tägliche Tun jedes Einzelnen von uns Auswirkungen auf das Gesamtsystem hat, nicht länger verschließen können.Auf ein MehrNur wenn der Einzelne sein Leben ändert und also, erstens, die Strukturen zu verstehen und sich über seine eigene Verstrickung klar zu werden versucht, zweitens, Alternativen erarbeitet und sich, drittens, mit anderen, die zu ähnlichen Schlussfolgerungen und einem ähnlichen Handlungsimpuls gefunden haben, zu jenen radikaldemokratischen, außerparlamentarischen Bewegungen zusammenschließt, die auch Altvater und Zelik als Zellen der Veränderung favorisieren. Erst dann wird die kritische Masse erzeugt, die gegen den Widerstand herrschender konservativer Eliten und einer Sozialdemokratie, die sich „als effizientes Verwaltungspersonal neoliberaler Konzepte“ diskreditiert hat, anzugehen und alternative Vorstellungen durchzusetzen vermag. Es geht darum, „den herrschenden Konsens zu unterminieren und einen neuen Konsens über zentrale Fragen der Arbeit, des Lebens, des Geldes, der Natur zu organisieren“, sagt Altvater. Ja, und das bedeutet, sich als ein Subjekt praktischer Philosophie zu erweisen, und zwar im Sinne Kants als der Lehre von dem, was sein soll. Was aber sein soll, darüber nachzudenken und zu Schlüssen zu kommen, ist Zeliks und Altvaters Utopievermessung ein guter Ausgangspunkt – zur Anregung und zur weiteren Diskussion, die dann ins Tun münden sollte.
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