Perspektive

Bindekräfte In Suhl diskutierten Historiker über die "Gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte?"

Schon Goethe zeigte sich seinerzeit angetan von dem weiten Rundblick, der sich ihm auf dem Ringberg, oberhalb der Stadt Suhl am Südhang des Thüringer Waldes bot. Ende vergangener Woche trafen sich dort auf Einladung des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, der Berliner Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn Historikerinnen und Historiker zu einer Konferenz. Auch sie wollten ihren Blick schweifen lassen. Doch anders als der Dichter nahmen sie nicht nur die Wipfel der umliegenden Wälder, sondern auch die deutsch-deutsche Geschichte in den Blick.

17 Jahre nach der Wende, so hieß es in der Einladung zu dieser Zusammenkunft unter der Überschrift "Gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte?", sei die Zeit gekommen, über einen Perspektivenwechsel nachzudenken. Bisher stehen in geschichtswissenschaftlichen Studien zur DDR und BRD überwiegend die Unterschiede der beiden deutschen Staaten im Mittelpunkt. In Zukunft soll die Geschichtswissenschaft sich deshalb stärker auf die Gemeinsamkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte besinnen. Doch dieses Plädoyer, gehalten von Horst Möller, dem Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, fand keineswegs überall ungeteilte Zustimmung. Die Kritik richtete sich vor allem dagegen, die gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte aus der Perspektive einer westdeutschen Erfolgsgeschichte zu schreiben.

Und in der Tat: Wenn Möller feststellt, dass sich mit der Wende die westdeutsche Demokratie gegenüber der ostdeutschen Diktatur als überlegen erwiesen habe, dann wird etwas als Ergebnis des Geschichtsverlaufs präsentiert, was doch erst einmal genau zu untersuchen ist. Vor allem lässt sich so nicht erklären, warum die DDR fast 40 Jahre existieren konnte, ein berechtigter Einwand, den Martin Sabrow, der Direktor des Zentrums für zeithistorische Forschung in Potsdam vorbrachte. Natürlich sei die Demokratie gegenüber der Diktatur die "bessere" Staatsform, doch sollte kein Historiker solch ein normatives Bekenntnis an den Anfang seiner Arbeit stellen. Denn dabei geraten unweigerlich die Bindungskräfte der DDR-Diktatur aus dem Blick. Wie kann von diesem Ausgangspunkt noch überzeugend die Frage beantwortet werden, warum die DDR fast 40 Jahre existiert hat; und wann und warum diese Bindungskräfte nachgelassen haben, während es der BRD offenkundig gelang, ihre Legitimationsbasis beständig zu erweitern.

Eine gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte, die das Ende der deutschen Teilung zum Ausgangspunkt nimmt, rückt außerdem unweigerlich die Lesart der westdeutschen "Erfolgsgeschichte" in den Mittelpunkt, und damit eine historische Phase, in der gerade keine gemeinsame deutsche Geschichte "stattfand"! Von diesem Punkt ist es dann nicht mehr weit, die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten als zielgerichtete Entwicklung der westdeutschen Geschichte zu beschreiben, oder besser, zu verkürzen: Die Einheit kam, weil sie kommen musste! Schließlich hieß es in der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik bis zuletzt: "Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden."

Der Augsburger Historiker Andreas Wirsching warnte davor, die Wiedervereinigungsrhetorik der Politik in Verbindung mit einer westdeutschen Erfolgsgeschichte für bare Münze zu nehmen. Empirisch sei das nicht zu beweisen. Allerdings müsse es schon so etwas wie einen gemeinsamen Erfahrungsraum gegeben haben, der die Deutschen in Ost und West zusammen gehalten habe. Doch wie hat der ausgesehen? Darauf können die Historiker noch keine abgesicherten Antworten geben. Schließlich steht das Vorhaben einer gemeinsamen deutschen Nachkriegsgeschichte erst ganz am Anfang. Immerhin sind sie sich darin weitgehend einig, dass die gemeinsame Geschichte vor 1945 ebenso wie die gemeinsame Sprache und Kultur starke Bindungskräfte gewesen sein dürften. Doch das allein wird nicht reichen. Die Geschichtswissenschaft muss weitere und überzeugende Belege für den vermuteten gemeinsamen Erfahrungsraum präsentieren. Erst dann kann zuverlässig beurteilt werden, ob eine gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte auf einem tragfähigen Fundament steht oder bloß ein frommer Wunsch bleiben wird. Bis zum Nachweis derartiger Bindungskräfte ist also Skepsis angeraten.


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