REISEN

Kehrseite I 1983. An den Ausfallstraßen standen Tramper im staubigen Licht. Sie hielten Pappschilder hoch, auf die sie ihre Reiseziele geschrieben hatten. Neben ...

1983. An den Ausfallstraßen standen Tramper im staubigen Licht. Sie hielten Pappschilder hoch, auf die sie ihre Reiseziele geschrieben hatten. Neben ihnen dröhnten Mähdrescher über die riesigen Felder.

Erinnerungen an den Keller des Leipziger Hauptbahnhofes, wo sich der Fahrkartenschalter für Auslandsreisen befand. Jede Fahrkarte wurde von Hand ausgefertigt. Negru Voda, Bucuresti, Biharkeresztur, Budapest, Sturovo, Praha, Schöna, Dresden - alles in Schönschrift und mit Durchschlag, das dauerte seine Zeit. Ein rosa Umschlag wurde zum Abschluss um die Blätter geklammert.

Die Internationalen Kursbücher der Deutschen Reichsbahn, blau-schwarz-weiße Umschläge, knisterndes dünnes Papier. Zielorte mit magischen Namen, Paris, Gare de l´Est zum Beispiel, eine Welt der planmäßigen Abfahrten und Ankünfte, mit solchen Errungenschaften wie Schlaf- und Speisewagen, ein Europa, das bereist werden konnte.

Bahnfahrten in überfüllten Zügen mit schmutzigen Toiletten, ohne Wasser, umweht vom Dieselruß aus den donnernden Lokomotiven.

Die weite durstige Ebene der Puszta. Der riesige Bahnhof von Bukarest, in dem eine Stunde Aufenthalt verheißen wurde. Zeit zum Wasserholen, Zeit für einen Kaffee. Als sich der Zug nach wenigen Minuten aus der Bahnhofshalle schob, rote Rücklichter in der Nacht. Und dann nach bangen Minuten zurückrangiert wurde zur Abfahrt. Eine Nacht in den Bergen, als zwei Lokomotiven sich mühten, den langen Zug auf die Höhen der Karpaten zu ziehen. Sternenhimmel, Buzau, ein Bahnhof inmitten unermesslicher Tannenwälder. Der Morgen im Iskardurchbruch, oranges Licht auf blendend weißen Kalkfelsen. Dann endlich Sofia, Morgenkaffee am Marktstand, der Weg zum Campingplatz, Zelt aufbauen, Duschen, zum ersten Mal seit drei Tagen ... - Vielleicht sollte ich noch mal aufbrechen wie damals, auf dem alten Weg, in die heute unwirtlichen Länder? Reisen ist eine traurige Sache geworden, die Welt ist erschlossen, man kann sich verschicken lassen wie ein Postpaket, an die genormten bereitgestellten Adressen. Dann kommt vielleicht eine Flut oder man stürzt vom Berg, aber meist passiert nichts. Leute versuchen, aus meiner Anwesenheit maximalen Gewinn zu ziehen, ich beteilige mich daran aus schlechtem Gewissen oder weil ich in der Fremde ohnehin mehr Geld ausgebe als zu Hause. Wo ist es denn noch schön? Vielleicht in einer Sommerfrische wie im Kaiserreich, einer Villa mit einem Namen am First, in einem Kurort, wo ich einen wunderbar langweiligen Sommer verbringe, drei Monate mit Spaziergängen und Bootsfahrten, mit Abendunterhaltung und Seeterrassen. Auf der Suche nach diesen privilegierten Idyllen verstopfen die Leute alle einigermaßen reizvollen Orte. Eine demokratische Sommerfrische ist nicht zu haben. Was also dann? Vielleicht ein langer Sommer in der Großstadt, wenn alle verreist sind, Abende auf dem Balkon, auf den Freisitzen, Nachmittage am See. Sonnige staubige stille Tage. Das kann ich sofort haben. Es muss nur Sommer werden.

Bettina Rüdiger, 1965 in Leipzig geboren, studierte Bibliothekswesen. Seit 1990 arbeitet sie an der Deutschen Bücherei Leipzig als Bibliothekarin. Gerade forscht sie nebenbei über Flohmärkte in der DDR, lebt immer noch in Leipzig.


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