Was für ein polnischer Witz! Der Mann, der in vierzig Jahren 30 Revolutionen in Afrika, Lateinamerika und Nahost häufig nur knapp überlebte, an Malaria tropica, Tuberkulose, Geldfieber erkrankte und sechs Bypässe am Herzen trug, starb drei Tage nach Implantierung des siebten mit 74 Jahren in einem Warschauer Spital.
Seinen frühen Weltruhm als "Reporter des Jahrhunderts" und ewiger Nobelpreis-Kandidat hatte der 1932 in der ostpolnischen, heute zu Weißrussland gehörenden Kleinstadt Pinsk geborene Journalist, Essayist, Poet als unerfreuliche Bürde erfahren und suchte der vom Buchmarkt geforderten Reproduktion seiner "satanischen" Reportagen durch essayistische Prosa und persönliche Gedanken über Politik und Moral, Kunst und Kitsch, Krieg und Fr
ieg und Frieden, Sprache und Sprachlosigkeit zu entfliehen. Zuletzt in Die Welt im Notizbuch (2000), Meine Reisen mit Herodot (2004) und Notizen eines Weltbürgers (2006) verdichtete Ryszard Kapuscinski seine seit den fünfziger Jahren gesammelte Weltanschauung, die bei keinem Autor ausdrücklicher aus dem Anschauen der Welt entsprang, zu einem polyglotten, nie banalen, enzyklopädisch trockenen oder subjektiv tränenfeuchten menschlichen Bestiarium von höchster literarischer Meisterschaft. "Reisen, Lesen und Reflexion -das sind die drei Quellen, aus denen ich beim Schreiben schöpfe. Darüber hinaus ... sporadische Ausflüge in die Poesie und die Fotografie", so hat es Kapuscinski selbst einmal gesagt.Die Berührung mit der physischen Existenz einer Sache war für ihn unerlässlich. Um sie zu verstehen, setzte er sich ungesunden Strapazen und Gefahren aus, die sich ein Egon Erwin Kisch in seiner rasend-naiven Blindheit und ein Bruce Chatwin in seiner dandyhaften Neugier auf alles Anekdotische und Unsichtbare, niemals zugemutet hätten. Obwohl ihm beim Schreiben seine winzige Warschauer Wohnung die ganze Welt war, zog es ihn immer wieder hinaus, vor allem in den für Weiße schwer zu abstrahierenden Schwarzen Kontinent, dem er verfallen war. Seit er als junger Mann Zeuge der blutigen Geburt der afrikanischen Nationalstaaten war, und über fast alle Bürgerkriege berichtete, wurde Afrika das Thema seines Lebens.Die Herkunft aus einem der ärmsten Länder Europas und die Tatsache, dass die polnische Presseagentur PAP ihn aus Devisenmangel zwang, seine Artikel auf zwanzig Telex-Zeilen zu beschränken, zwang ihn, seine haarsträubenden Erlebnisse und synchron-optischen Eindrücke aus dem Herz der Finsternis Afrikas wie ein Kriegsfotograf ohne ausreichendes Filmmaterial auf das Wesentliche zu beschränken. Armut ist die Muse der Poesie, und so wurde aus dem polnischen "Reporter des Satans" mit der Sprachgewalt eines Joseph Conrad zwangsläufig ein moderner Dichter der Göttlichen Komödie, der mit Herodot, seinem vorbildlichen Reiseführer, durch die sieben Kreise der Hölle ging. So wie Dante Alighieri, um seine Erfahrung von Mitleid und Empörung über die Dritte Welt als Dokudrama mit universalen Codes der Politik und Ökonomie, Macht und Ohnmacht, Hoffnung und Verzweiflung subjektiv-filmisch abzubilden.Kritik und Analyse, die Waffen des freien westlichen Journalisten, waren sowenig Kapuscinskis Schreibzeug wie Affirmation und Ideologie. Deshalb fiel seine Reportage König der Könige über den Sturz Kaiser Haile Selassis bei der polnischen Zensur in Ungnade, weil sie mehr war als ein Augenzeugenbericht der von Moskau bezahlten äthiopischen Revolution von 1975, sondern eine allgemeine Parabel der Macht und Unmenschlichkeit gewaltsam erzwungener Volksdemokratien. 1981 verließ Kapu, wie ihn seine zahlreichen deutschen Leser aus Qual mit den zischenden Konsonanten nannten, die Agentur PAP und wurde freier Buchautor. Nach Afrika zog es ihn weiterhin, aber auch in Paris, New York Berlin sah man den freundlichen, unauffälligen Globetrotter öfters als Vorleser und Preise-Sammler. Als das Sowjetimperium wie ein Kartenhaus umfiel, reiste er 60.000 Kilometer kreuz und quer von Warschau bis Workuta, um dort fast zu erfrieren. Ausgerechnet die Solidarnosz-Presse rügte sein Buch Das Imperium (1993) als gefühlig, erkenntnisarm, unkritisch.Obwohl er mit Afrikanisches Fieber (1999) einen Weltbestseller schrieb, mehrten sich auch im Westen Stimmen, dass der Autor des legendären "Fußballkrieges" (1969) und unvergleichlichen Noch ein Tag im Leben (1976) mit seinen späten Werken, montiert aus Tagebuch-Aufzeichnungen, Gedanken über Literatur, Gott und die schöne neue Medienwelt zum Autor allgemeinen Greisengemurmels verkommen ist, der das vermeintlich kompliziertere 21. Jahrhundert durch die Brille eines Reisenden des 19. Jahrhundert betrachtet. Sein letztes Buch Notizen eines Weltbürgers bestätigt jedoch nur, dass Kapuscinski einer der unbestechlichsten Augenzeugen und gewiss der literarischste unter den Reportern des 20. Jahrhunderts war, weil er gegen den kapitalen Fortschritt anschrieb, um den Menschen als Maß aller Dinge aufzuwiegen.