Ruhe im Strudel

Sportplatz Kolumne

"Public Viewing" heißt der aktuelle Trend und meint eine feine Sache, denn vieles ist fußballbegleitend möglich: essen und trinken, Leute kennen lernen, flirten und feiern. Dieser Vorteil ist jedoch zugleich von Nachteil, denn vom Spiel etwas mitzubekommen fällt schwer, vor allem wenn Deutschland nicht auf dem Platz ist. So fand zum Beispiel das Gruppenspiel Schweden gegen Paraguay in einem Berlin-Schöneberger Café wenig Aufmerksamkeit, obgleich mit Nelson Valdez (Werder Bremen) und Roque Santa Cruz (Bayern München) zwei Bundesligisten für Paraguay stürmten. Vom Fernseh-Kommentator war kein Wort zu verstehen, denn an den meisten Tischen - allesamt männlich besetzt - ging es unüberhörbar und störend um anliegende gesundheitliche Probleme oder wirklich "große" Spiele von anno dazumal. Offensichtlich fand man die laufende Partie langweilig schlicht aus dem Grund, weil Deutschland nicht spielte.

Auch wenn die massenhafte Beflaggung vermutlich eher dem Event als der Nation geschuldet ist, stellt sich die Frage, warum der Fußball Anlass zu "Patriotismus" gibt? Warum bringen auch die keineswegs national gesinnten Ballbegeisterten gesteigertes Interesses nur für die "eigene", die deutsche Mannschaft auf? Selbstverständlich ist das nicht, gerade im Kontrast zur Internationalisierung der nationalen Ligen mutet das Phänomen recht anachronistisch an, denn die Herkunft der Spieler wird immer bedeutungsloser. Ob in Barcelona oder Gelsenkirchen, für die Vereine spielen kaum noch Jungs aus der Gegend, stattdessen handelt es sich um bunt zusammengewürfelte Truppen aus verschiedenen Nationen. Die Fans bejubeln daher jene, die auf dem Rasen im richtigen Trikot ansehnliche und effektive Dinge tun, ganz unabhängig vom Geburtsort und vorhandenen Sprachkenntnissen. Auch auf der Ebene der Nationalmannschaften wird die Lage zusehends unübersichtlicher, nahezu alle Teams verfügen über ihren eingebürgerten Brasilianer, und immer häufiger müssen diese mit sportiver Staatsangehörigkeit ausgestatteten Spieler gegen ihre "Heimatländer" antreten. Der so furiose "deutsche" Sturm ist eigentlich polnisch und viel diskutiert wurde daher, dass ausgerechnet und nur im Spiel gegen Polen Ladehemmung war. Da halfen dann die eingewechselten Odonkor und Neuville aus - auch keine klassischen deutschen Jungs. Wie dem mexikanischen Trainer La Volpe, als gebürtigem Argentinier, erging es dem eigentlich brasilianischen Trainer Japans oder Eriksson als dem Nationalcoach der Briten, die versuchen mussten, die Teams ihrer Herkunftsländer zu besiegen.

Möglicherweise führt diese zunehmende Unübersichtlichkeit zu einer Gegenbewegung - ähnlich wie die Globalisierung gegenläufige Prozesse in Gang bringt - zur verstärkten Identifikation mit dem heimatlichen Kick. Denn, was diese WM ausmacht, ist weniger fantastischer Fußball - der kann dem zum Teil brillanten Clubfußball nicht das Wasser reichen -, als zwei widersprüchliche Erscheinungen: einerseits die Party, die alle zusammen feiern, und andererseits die auffällige Zurschaustellung der eigenen Nationalität. Der erstmalig so ausgeprägte Karnevalcharakter in und außerhalb der Stadien zeugt vom Wunsch vieler Menschen nach Identifikation mit ihrem Team und ihrem Land, das sie in tollen Kostümen repräsentieren. Der Sport bietet heute die willkommene und kostenlose Gelegenheit zum Gemeinschaftsgefühl, zu einem "Wir", das politisch in vielen Ländern so teuer geworden ist.

Warum kann nicht jeder die Mannschaft seines Herzens wählen wie den Lebenspartner? Die Soziologie nennt es "Modernisierung" der Gesellschaft, wenn sich immer mehr Bereiche einer freien Wahl öffnen, statt durch Traditionen oder Gesetze für den Einzelnen vorgegeben zu sein. Vielleicht handelt es sich bei dem sportlich gesehen eher anachronistischen Fußball-Patriotismus um das Bedürfnis nach Ruhe im Modernisierungsstrudel, nach entlastender Freiheit von der Freiheit.

In diesen Tagen wird mein Werder-Bremen T-Shirt wohlwollend aufgenommen, denn Werder spielt den schönsten Fußball der Liga und Klose schießt "uns" über die WM-Runden. Aber dass ich als gebürtige und bekennende Berlinerin nicht zu Hertha halte, gilt dennoch als Verrat und wird bloß akzeptiert, weil ich eine Frau bin. "La donna e mobile" eben, das kennt Mann - aber vielleicht sind Frauen einfach moderner.


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden