Schlaflied

Textgalerie Ich bin doch noch ganz klein Ich bin noch gar nicht da Ich bin noch nass / ich bin ganz roh Willst du nicht meine Eltern sein ...

Ich bin doch noch ganz klein Ich bin noch gar nicht da Ich bin noch nass / ich bin ganz roh Willst du nicht meine Eltern sein

Ich trage Wurzeln bis zur Hölle Ich bin kein Engel dass ich Flügel hab Ich bin ganz lieb und in der Helle des Tages sehr schön anzusehn

Ich hab mir schon den Kopf zurecht gerückt Ich schlage keine Zähne aus Ich hab mich auch so gut versteckt dass mich keiner finden darf

Willst du mir nicht die Decke über meinen Kopf zwei Paar Socken über meine Füße ziehn und mich im Schlaf anschaun und mit mir zur Hölle gehen

Willst du nicht meinen Schlaf bewachen/ anschaun und mit mir zur Hölle gehen

Das Schlaflied ist Norbert Langes Gedichtband Rauhfasern (Lyrikedition 2000, München 2005) entnommen.


Michael Braun
Wurzeln bis zur Hölle

Schönheit und ihre Zerstörung sind zwei Seiten einer Münze", hat der Dichter Norbert Lange einmal lakonisch gesagt. Es gibt auch für das von ihm beschriebende Kind im vorliegenden Gedicht keine Helligkeit, keine Schöpfungsfrühe, keine Zuversicht und keine Schönheit ohne die beängstigende Aussicht auf das Schreckliche und auf eine Fahrt in die Hölle. Eine große Lebensangst artikuliert sich da - aber auch die Hoffnung, dass ein geliebtes Du das Ich auf seiner Fahrt durch die Territorien des Schrecklichen begleitet.

Das vor einigen Jahren entstandene Schlaflied nimmt eine Ausnahmestellung in Norbert Langes Werk ein. In sehr vielen seiner Gedichte sind es schroff gefügte Bruchstücke aus Bildkunstwerken, Zitate aus Alltagszusammenhängen, Fotografien oder Liedreste, die in harter Fügung aufeinanderprallen.

Das Schlaflied setzt nun nicht auf diese Schnitt-Techniken der extremistischen Montage oder Wort-Kombinatorik, sondern bedient sich bewährter alter Formen wie der Litanei. Dabei wird eine Melodie von großer Suggestivität erzeugt. Das Schlaflied nimmt die Verfahrensweisen des seit dem Mittelalter gängigen Wiegen- und Kinderlieds wieder auf und setzt es um in einen abgründigen Höllengesang. Dabei ist es das ungebärdig gewordene Kind selbst, das hier das Wort ergreift und die verschiedenen Entwicklungsstadien des Ich - vom pränatalen Zustand bis zum existenziell erschöpften "Ich"-Bewusstsein - durchspielt.

Der 1978 in Gdynia/Polen geborene Norbert Lange, der nach langen Jahren in Leipzig seit einigen Monaten in Berlin lebt, sucht den intensiven Austausch mit den totgeglaubten Stimmen der poetischen Tradition und den Energien der lyrischen Vorfahren. Der Autor ist in Lahnstein im Rheinland aufgewachsen, das in seinem Debütband Rauhfasern (Lyrik Edition 2000, München 2005), zum Naturstoff und Bildgrund so manchen Gedichts geworden ist. Nach Studien in Philosophie, Kunstgeschichte und Judaistik in Berlin absolvierte Lange von 2002 bis 2006 ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.

In mehreren Essays wird die "Quellenkunde" als Zentralbegriff der Poetik markiert: Gedichte begreift Lange als Palimpseste, also als Übermalungen beziehungsweise Überschreibungen von historisch immer wieder neu bearbeiteten Urschriften. Der Autor hat also immer wieder neu Entscheidungen zu treffen: Welches Verfahren ist zu wählen, damit die eigene poetische Textur ein autonomes Gefüge wird und nicht die epigonale Reprise einer historischen Tonspur?

In einem Beitrag für eine Anthologie mit sprach- und poesiegeschichtlichen Tiefbohrungen (Quellenkunde, hrsg. von Norbert Hummelt, Lyrik Edition 2000, München 2007) hat Lange die Merseburger Zaubersprüche als primäre Sprachmaterie erforscht. Diese Beschwörungsformeln aus der Frühgeschichte der Poesie verknüpft er mit einem Gemäldegedicht, das eine Totentanz-Darstellung von Hans Holbein dem Jüngeren aufnimmt und mit modernen Reizwörtern verbindet. Am Ausgangspunkt des Holbein-Gedichts steht die intensive Beschäftigung mit dem zweiten Merseburger Zauberspruch, der die Heilung eines Pferdes evoziert. Das Pferd, so Lange in einem Brief, ist "einer alten Auslegungstradition zufolge, das klangliche und stimmliche Element der Sprache ... heißt das vielleicht, dass schon der Zauberspruch die Sprache heilen will?" Auch in der spracharchäologischen Dichtung Norbert Langes ist also der Zauberspruch noch präsent - auch in dieser von Montagetechnik und Zitaten bestimmten Poesie lebt der Glaube an die Heilkräfte der Dichtung fort.

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