Was wissen wir eigentlich wirklich über Tschetschenien? In den letzten Jahren sind einige wenige Bücher auf Deutsch erschienen, die vor allem die beiden Tschetschenienkriege 1994-1996 und 1999-2006 thematisieren, denen fast ein Fünftel der tschetschenischen Bevölkerung zum Opfer gefallen sein soll.
Herausragend sind die Reportagen von Anna Politkowskaja, deren formale Strenge, Empathie und Wahrhaftigkeit beeindrucken. Sie hat ihre Solidarität mit der tschetschenischen Bevölkerung mit dem Leben bezahlt. 2007 erschien das beklemmende Buch von Arkadi Babtschenko Die Farbe des Krieges" target="_blank">Die Farbe des Krieges (Freitag vom 16.3.2007), das den Weg der jungen russischen Rekruten nach Tschetschenien erzählt, die, wenn sie überlebten, als verr
Freitag vom 16.3.2007), das den Weg der jungen russischen Rekruten nach Tschetschenien erzählt, die, wenn sie überlebten, als verrohte alte Männer zurückkehrten.Tschetschenische Dichter und Schriftsteller sind in Deutschland leider bisher so gut wie unbekannt. Ausnahme ist Apti Bisultanov, der seit einigen Jahren im deutschen Exil lebt und lange um Anerkennung als Flüchtling kämpfen musste. Umso verdienstvoller ist es, dass der Ammann Verlag den Lesern im deutschsprachigen Raum mit German Sadulajew einen tschetschenischen Autor der jüngeren Generation vorstellt.In Ich bin Tschetschene spricht ein Alter Ego des Autors: „Ich heiße German Umaralijetitsch Sadulajew. Ich bin Tschetschene. Ich kann keine Angst mehr haben. Bei uns ist der Bereich des Gehirns, der für die Angst verantwortlich ist, vollständig verkümmert. Ihr könnt mich umbringen, früher oder später, ihr oder sonst wer, wir sind bereits alle tot, und Tote haben keine Angst vorm Sterben.“Der Autor bezeichnet sein Buch, das im Titel keine Gattungsbezeichnung trägt, als Roman in Splittern. Es ist ein Mix ist aus Mythen, tschetschenischer Historie, Riten, Berichten, Anklagen, Statistik und Erinnerungen des Autors.Der Krieg mit seinen Streubomben hat die geschlossene Form zerstört, die Perspektiven sind verschoben. „Der große Behälter öffnet sich am Himmel, wie ein Haufen kleiner Himmelsigel fallen kleinere Bomben in der Größe von Fußbällen aus ihm heraus, jeder Ball enthält eine tödliche Füllung: Kugeln, Splitter, Nadeln. Wurde das Herz getroffen?“Wenn Letzteres eine Frage an die Leser ist, dann ließe sie sich vielleicht mit „Streifschuss“ beantworten, zu unterschiedlich durchgearbeitet ist das Material. Die eingestreuten Ansprachen an die Mutter, die zugleich Heimat und leibliche Mutter bedeutet, sind für mitteleuropäische Lesegewohnheiten irritierend, weil von metaphernreichem Pathos durchdrungen.Sadulajew versucht, mit poetischen Mitteln Alltag und Auswirkungen zweier Kriege zu beschreiben, die dort, wo er seit Jahren wohnt, in Russland, beständig kleingeschwiegen und uminterpretiert werden. Er schreibt über die Schwalben, die Glück bringen, wenn sie ihr Nest in den Häusern bauen. Was aber, wenn es kein Haus mehr gibt? Und die eigene Identität als Tschetschene durch das Wanderleben brüchig geworden ist? „Ich bin selbst eine Schwalbe. Kein förderaler Rittersmann, kein heiliger Mudschahed, nur eine Schwalbe, die nicht unter ihr vertrautes Dach zurückgekehrt ist.“Auch die Männlichkeit ist durch Krieg und Flucht in die Krise geraten. „Wir werden nicht nach Tschetschenien zurückkehren. … Wir haben uns daran gewöhnt, hier zu leben. Auch wenn wir ausspioniert werden, keine Arbeit bekommen, polizeilich nicht registriert werden … Mittlerweile sind wir weibisch und verweichlicht, wir können nicht mehr unter dem strengen Blick der hohen Berge leben … Kein Glück, die blonden russischen Frauen haben uns kein Glück gebracht. Mit ihnen zusammen sind wir selbst zu Frauen geworden.“Dicht sind die Passagen, die das Zwiespältige der Existenz des Erzählers und seiner Familie beschreiben. Er ist Sohn einer Russin und eines Tschetschenen und er ist in Tschetschenien geboren. Und weil das in seinem Pass steht, bekommt er, der seit vielen Jahren in St. Petersburg lebt, nur schwer Arbeit und Unterkunft und manchmal auch Anrufe von Schutzgelderpressern oder dem russischen Geheimdienst.Seine Schwester, eine Lehrerin, wurde durch die Druckwelle einer russischen Boden/Boden-Rakete schwer verletzt, die auf einem Dorfplatz explodierte. Sein Versuch, sie nach St. Petersburg zu holen, ist ein Spießrutenlaufen.Der Ich-Erzähler selbst ist sich der Unzulänglichkeit seines Textes bewusst: „Wir werden sie schon noch schreiben, ganz bestimmt. Vielleicht sogar ich: richtige Romane und Erzählungen mit einer Handlung. Dort wird es einen Helden und eine Heldin geben, einen Ausgangspunkt, eine Intrige, eine unerwartete Entwicklung … Mir bleibt sowieso nichts zu tun übrig.“Inzwischen hat er sie geschrieben, diese Erzählung. Sie ist in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Lettre auf Deutsch veröffentlicht. „Posten Nr. 1“ erzählt viel dichter und beklemmender als Ich bin Tschetschene die Geschichte der vier besten Pioniere des Verwaltungskreises, die, kaum vierzehnjährig, mit einer echten Kalaschnikow die ewige Flamme, ein Denkmal für die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges, bewachen. Nur einer der vier, der Ich-Erzähler, überlebt die beiden Tschetschenienkriege. Arslan verbrennt in einem Übungsflugzeug, Anzor wird als Rebell ermordet und das namenlose Mädchen stirbt bei einem Granatwerferbeschuss seines Dorfes. In das Mädchen hatte der Ich-Erzähler sich bei der Ehrenwache verliebt. „Wir hätten uns wahrscheinlich geküßt. Wenn wir nur gewußt hätten, wie das geht. Aber das wußten wir nicht. Dafür wußten wir, wie man eine Kalaschnikow auseinander- und wieder zusammenbaut.“
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.