Ich gehe dem einzigen Fall von Separatismus in der Schweiz nach, da erschreckt mich ein Anruf aus der Ukraine. Die südukrainische Familie, mit der ich befreundet bin, lebt Hunderte Kilometer von der Krim und vom Donbass entfernt. Das Gebiet kommt in den Nachrichten nicht vor, keine Amtsgebäude sind besetzt, keine russischen Fahnen gehisst, keine Aufständischen aufgetaucht. Eben darum erwischt mich die Lagebeschreibung aus der vorgeblich ruhigen Gegend kalt: Auf den Straßen würden Unbekannte patrouillieren, bewaffnet und vermummt. Ein Kleinunternehmer wurde öffentlich erschossen und die Tochter des Hauses soeben an einer der zahllosen Straßensperren ausgeraubt. Täter waren maskierte Freiwillige ohne Abzeichen, nun erhofft sie sich Trost von mir, Worte
rte der Beruhigung aus sicherer Distanz. Mir fällt nichts ein.Gedanklich noch in der zerrütteten Ukraine, fahre ich in die heile Schweiz ein. Schweizer, die sich von der Schweiz abspalten wollen, lassen sich wohl nirgends auftreiben, einen Territorialkonflikt um Kantonsgrenzen gibt es aber doch. Am 24. Februar 2013 stimmten 73 Prozent der etwa 52.000 französischsprachigen Bernjurassier dagegen, vom großen, deutsch-protestantisch dominierten Kanton Bern in den kleinen, französisch-katholischen Kanton Jura zu wechseln. Nur eine einzige Gemeinde stimmte für die Grenzverschiebung – es war Moutier. Am Abend des Referendums wurde von Schlägereien berichtet.Moutier, 7.500 Einwohner, das ist ein Industriegroßdorf, das sind in ein rauschendes Tal geklotzte Wohnblöcke. Ich erkundige mich an einem Kiosk. Die Verkäuferin – sie könnte vom Balkan stammen – erweist sich als lebhafte Erzählerin. Sie zetert mit schwerem Akzent los: „Das war furchtbar. Ich war mit meinem Mann abends beim Bahnhof, um zu essen, und sah alles. Sie kamen aus dem Tavannes-Tal, 500 bis 600, fuhren mit ihren Autos im Kreis, schwenkten Berner Fahnen und schlugen massenhaft Autoscheiben ein.“ Die Zeitung, die sie mir empfiehlt, Le Journal Jurassien, berichtet breit über das 50-Jahr-Jubiläum der „Frauenvereinigung für die Verteidigung des Jura“ in Vellerat: „Von der ursprünglichen Flamme in Moutier bis zum erwarteten Zündfunken … wieder in Moutier“.Ich setze mich an den Tatort, vor den Buffet-Express am Bahnhof. Eine gebeugte Greisin saugt, wenn sie nicht gerade hustet, an einer elektronischen und an einer richtigen Zigarette, in rhythmischem Wechsel. Noch andere ältere Damen sind zu sehen, klein gewachsen, viele mit italienischen oder portugiesischen Wurzeln. Keine will von einer Schlägerei auch nur gehört haben. An der gegenüberliegenden Seite des Bahnhofsplatzes ein Restaurant mit Terrasse, auf dem Dach weht die Jura-Fahne. „Ist dieses Buffet pro Bern?“, frage ich die leutseligste Rentnerin, die sich lachend an einem Rosé aus dem Wallis labt. „Wir sind pro AHV“, antwortet sie – das heißt, für die Normalrente. Die meisten Gäste äußern sich zurückhaltend, eine gewisse emotionale Bindung an Bern scheint aber vorzuherrschen.Ein weißhaariger Herr schaltet sich ein, Anhänger von Moutiers Ministaatspartei Parti socialiste autonome du Sud du Jura und Verfechter des Jura-Anschlusses „bis ans Ende meiner Tage“. Diesem Augenzeugen vertraue ich. „Das war nichts“, erklärt er, „da kamen drei oder vier Autos mit Berner Fahnen, die von der Terrasse drüben mit zwei, drei Blumentöpfen beworfen wurden.“ – „Wurden die Autos getroffen?“ Monsieur winkt ab. „Drei, vier Polizisten haben den Platz gesperrt. Das hat vollkommen gereicht.“Ich fahre ins Tal der Angreifer, in das kleinere Industriedorf Reconvilier, Sitz eines chinesisch-schweizerischen Stahlkonzerns, für seine beherzten Kupfergießer bekannt. In der „Tabac-Bar“ frage ich, was das für Leute seien, die nach Moutier demonstrieren fahren. „Ganz normale Leute“, antwortet die Barfrau, „solche wie Sie.“ Sie äußert sich zunächst betont vernünftig, Reconvilier habe viele Behörden in Moutier, da wäre eine Abspaltung unpraktisch. Laut wird sie, als ich frage: „Was geht das die Leute in Reconvilier an?“ – „Da geht’s ums Prinzip! Will man etwa die ganze Schweiz fressen? In den 80er Jahren mussten die Grenadiere aufmarschieren!“ – „Dann gibt es also wieder Prügel, wenn Moutier erneut abstimmt?“ – „Mit Sicherheit!“Wie klug, denke ich mit Blick auf die Ukraine, dass Moutier als Einzelgemeinde frühestens Ende 2016 über einen Anschluss an den Kanton Jura abstimmen darf. Gewiss gründete sich 1848 auch der Schweizer Bundesstaat unter Beugung des damals geltenden Rechts, zuvor wurde der Sonderbundskrieg mit 150 Toten geführt und das Luzerner Referendum recht unkonventionell ausgewertet. Erst danach wurde die Schweiz zum vorbildlichen Rechtsstaat. Das Ringen um das Dorf Vellerat zog sich über Jahrzehnte, 1994 musste für den Kantonswechsel von 70 Bürgern die ganze Schweiz an die Urnen. Das Geheimnis der Schweiz, es liegt vielleicht in der Länge der Abkühlphasen.