Die Börse scheint sich mal wieder vom Boden der ökonomischen Realität gelöst zu haben. Die Corona-Rezession ist zwar noch im vollen Gang, das zweite Quartal wird wohl katastrophal. Dennoch geht es mit Aktienkursen seit einiger Zeit bergauf. Die Börsenindizes liegen nicht mehr weit unter ihren vergangenen Rekordhochs. Erklärt wird dies oft damit, dass die Märkte eine wirtschaftliche Erholung kommen sehen. Doch das unterstellt ein vereinfachtes Verhältnis zwischen der sogenannten Realwirtschaft und der Finanzsphäre und somit den Börsen eine Rationalität, die ihnen so nicht zukommt.
Seit ihrem Absturz im März sind die Aktienindizes der USA und Europas wieder um etwa 40 Prozent gestiegen. Gleichzeitig geht es mit der Wirtschaftsleistung noch immer bergab. Zwar werden die Lockdown-Maßnahmen schrittweise zurückgenommen, die Konjunktur belebt sich. Doch sind diese Erfolge relativ: In den USA fiel die Arbeitslosenrate zuletzt, allerdings nur von 14,7 Prozent auf 13,3 Prozent. In Frankreich sieht das Statistikamt INSEE eine „Erholung im Mai“, die allerdings lediglich dazu führt, dass das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal um 17 Prozent sinkt statt um die zuvor erwarteten 20 Prozent. Die Allianz schätzt, dass in Europa neun Millionen Menschen ihren Job verlieren könnten, wenn Kurzarbeiter-Regelungen und andere staatliche Stützungen auslaufen.
Warum steigen die Kurse dennoch? Zunächst: Die Börsen sind kein Spiegel der wirtschaftlichen Aussichten. Für Aktienhändler ist die Wirtschaft lediglich das Fundament, auf dem ihre Spekulation aufbaut. Wer an der Börse spekuliert, der bildet sich zumeist eine Meinung über die Konjunkturlage. Doch kommt es für sein Geschäft weniger auf eigene Erwartungen an statt auf die Erwartungen aller anderen Börsenhändler. Denn erst wenn sich unter diesen die Ansicht durchsetzt, dass es trotz Corona-Pandemie an den Börsen aufwärts gehen wird, werden am Markt auch höhere Preise für Aktien gezahlt. Nur dann lohnt sich ein Investment. Der Aktienhändler muss aus den wirtschaftlichen Daten also herauslesen, wie die Mehrzahl der anderen Aktienhändler diese Daten deuten wird. Bei dieser Operation stehen alle Marktteilnehmer einander gegenüber und belauern sich.
Der Ökonom John Maynard Keynes hat dies mit einem Schönheitswettbewerb verglichen, bei dem es nicht darum geht, „jene auszuwählen, die nach dem eigenen Urteil wirklich die hübschesten sind, ja sogar nicht einmal jene, welche die durchschnittliche Meinung wirklich als die hübscheste betrachtet. Wir haben den dritten Grad erreicht, wo wir unsere Intelligenz der Vorwegnahme dessen widmen, was die durchschnittliche Meinung als das Ergebnis der durchschnittlichen Meinung erwartet.“ Und bei diesem Geschäft kommt es für jeden einzelnen Investor darauf an, der Erste zu sein, der auf den kommenden Trend setzt. „Fear of missing out“ (FOMO), also die Furcht, Kursgewinne zu verpassen, ist daher ein wesentlicher Treiber der aktuellen Hausse, die allein dadurch entsteht, weil die Marktteilnehmer auf sie wetten.
Die Spekulation braucht also keinen Aufschwung, sondern lediglich Anhaltspunkte dafür, dass es an den Märkten bergauf gehen wird. Und die gibt es: Die Corona-Ansteckungszahlen gehen zurück, die Wirtschaft erholt sich zaghaft. Vor allem aber haben die Staaten der Welt elf Billionen Dollar zur Stützung ihrer Ökonomien aufgeboten, weitere fünf Billionen sollen folgen. Dazu kommen Wertpapierkäufe der Zentralbanken, die Billionen an Liquidität in die Märkte pumpen.
Junge gierige Männer
Zwar haben diese Maßnahmen eigentlich einen negativen Ausgangspunkt: Die Regierungen nähren mit ihren Hilfsgeldern keinen Boom, sondern kompensieren lediglich ausgefallene Nachfrage des privaten Sektors. Dennoch werden die staatlichen Interventionen wie ein Impuls nach vorne betrachtet, ebenso wie die Liquiditätsflut der Zentralbanken, die tatsächlich bloß eine allgemeine Pleite verhindert. Die Nullzinsen machen Aktien im Vergleich mit Anleihen zwar attraktiver, was die Aktienkurse treibt – die niedrigen Zinsen sind aber nur eine Reaktion auf die Tatsache, dass die Geschäfte so schlecht laufen.
Was die Börse treibt, sind also zwar lediglich Reaktionen der Staaten auf eine vorliegende Krise. Diese Reaktionen nehmen die Akteure an den Finanzmärkten zum Anlass, auf steigende Kurse zu wetten. Es bleibt ihnen auch nicht viel anderes übrig: Im Finanzsektor existiert ein dauerhafter Überschuss an Anlagekapital, das nach Rendite sucht und sie finden muss.
An den Börsen werden wieder Blasen aufgepumpt, schreibt der US-Ökonom Paul Krugman in der New York Times, „und die Blasen werden immer dümmer“. Die Internet-Spekulation zur Jahrtausendwende, so verrückt sie gewesen sei, habe wenigstens eine neue Technologie zur Grundlage gehabt, so Krugman. Selbst die Blase bei den US-Hypothekenpapieren, die zur Krise ab 2008 führte, erscheine noch vernünftig im Vergleich zu dem, was seit Mai passiere. „Die Konventionen der Börsenberichterstattung unterstellen Investoren eine Rationalität, Aktienbewegungen werden daher einem Optimismus bezüglich der wirtschaftlichen Erholung zugeschrieben“, so Krugman. In der Realität jedoch handele es sich derzeit „schlicht um einen Haufen junger Männer“, die Aktien kaufen, „weil sie bisher damit Geld gemacht haben“.
Kommentare 13
Floh de Cologne.
https://www.youtube.com/watch?v=N7TaDwXAHoY
Vater Staat und seine Zentralbank halten während des Krisengewitters schützend ihre starke Hand über Unternehmen und Banken, verlangen aber im Gegenzug dafür nicht die zukünftigen Gewinne oder wenigstens einen gerechten Anteil daran. Da kommt es mir angesichts des während des Lockdowns aufgelaufenen (und für kapitalistische Krisen so untypischen) Kaufkraftüberhangs gar nicht wie eine Dummheit junger Männer vor, sich diese zukünftigen Gewinne durch den Kauf von ein paar Aktien zu sichern, insbesondere da die Kurse derzeit noch ca. 10% unter Vorkrisennieveau stehen.
„Die Konventionen der Börsenberichterstattung unterstellen Investoren eine Rationalität, Aktienbewegungen werden daher einem Optimismus bezüglich der wirtschaftlichen Erholung zugeschrieben“, so Krugman.
Das stimmt. Die öffentlich-rechtlichen Medien haben diese Art der täglichen Berichterstattung verinnerlicht oder ihren Fach-Journalisten in den Arbeitsvertrag geschrieben. Die Welt des größten Casinos wird repräsentiert durch "die Märkte", die scheinbar Rationalität ausstrahlen und journalistisch so behandelt werden, als seien sie rational. Die Politik traut sich nicht einzugreifen. Durch eine entsprechende Steuergesetzgebung könnte das Traden in weniger volatile Bahnen gelenkt bzw. eingedämmt werden. Spekulationsblasen könnte die Luft entzogen werden.
Ja, die Börse lag kurzzeitig bei 8000. Undhat jetzt die12.000 wieder erreicht. Ohne das Hoffnung gäbe auf Erholung der Wirtschaft. Erstaunlich. Alkaa es sich nur um eine Blase handeln. Wenn die Wirtschaft aus der Pandemi etwas gelernt hat. Ich glaube nicht. Es gibt ein weiter so. Der alte Status muss erreicht werden. Und dabei kann man sich gleich von unliebsamen Mitarbeitern trennen.
Schon viele Beiträge von Stephan Kaufmann habe ich gelesen, zumal als Leser der Frankfurter Rundschau, an der Fachkenntnis gibt keinen Zweifel, treffende Analysen sind darunter, aber wie insgesamt bei den Wirtschaftsartikeln gibt es bei besonders bei einem Thema eine Leerstelle, einen weißen Fleck, der mehr und mehr auffällt, und er taucht auch in diesem Beitrag auf, mit diesem Satz [Hvm]:
"DAZU KOMMEN WERTPAPIERKÄUFE DER ZENTRALBANKEN, DIE BILLIONEN AN LIQUIDITÄT IN DIE MÄRKTE PUMPEN."
Wahlweise sird auch "der Markt geflutet" usw. usf.. Fragt man nach, wird von den Staatsanleihen ausgegangen und auf einer immer noch abstrakten Ebene der Handel mit ihnen, der Aufkauf und Verkauf beschrieben. Aber da fehlt was.
Die Frage ist eigentlich ganz einfach: Die Zentralbanken kreieren Geld und fluten, pumpen... aber wo landen diese Riesensummen? Die klammen Staaten bleiben jedenfalls klamm.Die Frage hat mir noch niemand beantwortet.
Danke für den schönen Link. Viele neoliberalisierte Bürger von heute werden sehr wahrscheinlich aber nicht einmal ansatzweise verstehen, worum es in dem Lied (von 1971) überhaupt geht.
Dazu passt der infantile und geradezu dümmliche Youtube-Kommentar eines gewissen "Sturzi": "Kapitalismus stinkt tatsächlich. Aber Sozialismus stinkt noch viel mehr."
Für die Neoliberal-Konservativen und Pseudo-Sozialdemokraten von heute ist jeder, der den Kapitalismus auch nur kritisiert, ein Sozialialist und Anhänger von Erich Honecker und damit ist das Thema auch schon erledigt.
Warum reden dann Neoliberale und Konsorten, wenn sie den Kapitalismus gegen Kritik verteidigen, immer von "Marktwirtschaft" und ganz selten von "Kapitalismus"?
Weil sie nicht einmal den Unterschied zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft kapieren oder weil Kapitalismus immer noch ein "Gschmäckle" hat und "Marktwirtschaft" so schön nach Effizenz, Effektivität, Neutralität und Objektivität klingt.
Natürlich gibt es Überschneidungen zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft, aber die Gegensatzpaare lauten einfach: Marktwirtschaft und Planwirtschaft bzw. Kapitalismus und Sozialismus (und nicht: Marktwirtschaft vs. Sozialismus).
Fragen wir doch mal den amtierenden Bundeswirtschaftsminster von der CDU. Der müsste so etwas doch sicherlich wissen. - Ach so, für solche banalen, aber grundlegenden Fragen hat der Bundeswirtschaftsminister keine Zeit.
Im Kapitalismus kann JEDER stinkreich werden, aber eben nicht ALLE. (Volker Pispers). Den Unterschied zwischen "jeder" und "alle" kapieren auch nicht alle in diesem unsere Lande.
>>...die Blasen werden immer dümmer...<<
Ich frage mich wie weit das an den Algorithmen liegt, die im Mikrosekundentakt Finanzmärkte bewerten und über Kauf, Verkauf und Leerverkauf entscheiden.
Das ist anscheinend eine Schallplattenaufnahme. Bemerkenswert und angesichts des heutigen Zustands des ÖR völlig unvorstellbar ist aber, dass Floh de Colgne auch im (damals noch nur ÖR) Fernsehen auftrat, z.B. mit diesem Lied:
https://youtu.be/0iLTtVgXhbY
Yes, thanks, shows impressively how far right the Republic has been moved.
...Beatclub, legendary German TV, 1969.
#1 in British Charts for several weeks.
https://www.youtube.com/watch?v=hdbr6vUCDQ0
Interesting lyrics.
Danke fuer das Feedback, Herr Brecht.
Lokomotive Kreuzberg.
https://www.youtube.com/watch?v=_eF7L4gO2jM
Langer Link, braucht Zeit.
... Zeit, die politische Nomenklatur zu korrigieren.
Complementary Compliments.
https://www.youtube.com/watch?v=0VPIuylr9-c
1.Festival des Politischen Liedes — 1970
"Die Nullzinsen machen Aktien im Vergleich mit Anleihen zwar attraktiver, was die Aktienkurse treibt – die niedrigen Zinsen sind aber nur eine Reaktion auf die Tatsache, dass die Geschäfte so schlecht laufen."
die null- bzw. negativzinsen sind die kleine schwester der von fed und ezb in umlauf gebrachten fantastillionen. sie machen, dass schulden nichts kosten oder sogar gewinn bringen. was, nur z.b., aus volkswagen mit seinen 192 mrd. euro schulden werden würde, stiegen die zinsen über nacht auf nur +1%, kann man sich ausrechnen (kosten von 1,92 mrd. euro/jahr). das gleiche gilt sinngemäß für hochverschuldete volkswirtschaften.
im gegenteil werden staaten mit "rettungs"programmen in zukunft die zinsen weiter senken, um ihre schuldenlast zu drücken. um bankenruns zu verhindern, wird es wohl über kurz oder lang kein bargeld mehr geben. alle player arbeiten derzeit an digitalwährungen:
https://www.heise.de/news/Banknotenhersteller-G-D-Das-Digitalgeld-kommt-4870709.html
https://www.marketwatch.com/story/fed-says-it-is-developing-an-experimental-digital-currency-11597352302?mod=home-page
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1135879.der-digitale-yuan.html
https://www.americanhealthcare.com/wde/Sk-vdo-MBc-0.html
https://www.americanhealthcare.com/wde/Sk-vdo-MBc-1.html
https://www.americanhealthcare.com/wde/Sk-vdo-MBc-2.html
https://www.americanhealthcare.com/wde/Sk-vdo-MBc-3.html
https://www.americanhealthcare.com/wde/Sk-vdo-MBc-4.html
https://www.americanhealthcare.com/wde/Sk-vdo-MBc-5.html
https://www.americanhealthcare.com/wde/Sk-vdo-MBc-6.html
https://www.americanhealthcare.com/wde/Sk-vdo-MBc-7.html
https://www.freitag.de/autoren/hukuhuku/2020-mbc6b4c8b215927796d5178-97d356fd304b3089751f4e2d7d99-756a7d448a737d30/view
https://www.mackillop.vic.edu.au/ews/figo/Sk-vdo-MBc-0.html
https://www.mackillop.vic.edu.au/ews/figo/Sk-vdo-MBc-1.html
https://hero.aqua.org/bun/Sk-vdo-MBc-2.html
https://hero.aqua.org/bun/Sk-vdo-MBc-3.html