Als Staatspräsident ist Jacques Chirac nach der Verfassung der V. Republik der Herr über die politische Tagesordnung. Zusätzlich verfügt er nach dem zweiten Wahlgang über eine komfortable Zweitdrittelmehrheit im Parlament (399 von 577 Sitzen). Ein starker Sieger? Mitnichten. 40 Prozent der Wähler gingen beim zweiten Wahlgang gar nicht erst zur Wahl. Und das Mehrheitswahlrecht beschert regelmäßig Siege, die wie Erdrutschsiege aussehen, aber faktisch substanzlos sind. Die Zahl der Nichtwähler ist größer als jene der Chirac-Wähler. Und das Mehrheitswahlrecht sorgt auch dafür, dass die rund 20 Prozent rechtsradikalen Le-Pen-Wähler keine Chance auf eine parlamentarische Vertretung haben - mit dem Ergebnis, dass es von Wahl zu
zu Wahl mehr Le-Pen-Anhänger gibt. Chiracs Sieg wird getragen von einer Union für die Mehrheit des Präsidenten (UMP), was eine Partei nicht ganz neuen Typs ist. Sie hat nur einen Programmpunkt - Mehrheitsgewinn für Chirac. Sie kennt noch keine Mitglieder, denn sie wird erst nach der Sommerpause gegründet. Und sie wurde von einer Handvoll gaullistischer Barone im Handstreich von oben herab dekretiert. Parteien solchen Typs sind reine Akklamationsorgane genauso wie das ohnehin schwache Parlament, das in seiner Marginalität nur noch vom europäischen in Straßburg und dem russischen Parlament in Moskau überboten wird. Die Loyalität der maßgebenden gaullistischen und liberalen Barone in der Fraktion der UMP erhält sich Chirac durch eine ausgeklügelte Klientelwirtschaft, die Hinterbänkler werden mit Geld und anderen Pfründen ruhig gestellt. "Der Sieg für die Union und das Vertrauen", von dem Premierminister Jean-Pierre Raffarin am Wahlabend sprach, ist ein ungedeckter Wechsel. Das politische Herrschaftssystem, das im Werden begriffen ist, hat in Frankreich schon Tradition: Der Bonapartismus beruht auf einer verselbstständigten Exekutive, einem willfährig und abhängig gemachten Parlament sowie einer Hurra-Partei. Vom Potenzial her hat Chirac also gute Aussichten, um das präsidiale System zum bonapartistischen auszubauen. Starke Mehrheiten gab es in Frankreich schon mehrmals. Nach dem Mai ´68 und in der Endphase der Ära Mitterrand (1993) erhielten die Gaullisten jeweils fast 500 Sitze in der Nationalversammlung. Chirac hat nicht viel Zeit. Der Bonapartismus funktioniert nämlich nur so lange, wie er sich als erfolgreich darstellen kann und bei der breiten Masse der Bevölkerung wenigstens den Anschein erweckt, für sie falle auch etwas ab. Obendrein reagiert die französische Öffentlichkeit ziemlich empfindlich auf Machtmissbrauch. "Als Grundregel gilt in Frankreich", schrieb Serge July in der Libération, dass "missbräuchlich genutzte Mehrheiten die Franzosen auf die Straße treiben." Und wie sehen die Verlierer aus ? Die gauche plurielle, also das linke Bündnis aus Sozialisten, Radikalen, Kommunisten und Grünen, verlor über eine Million Stimmen, allein die Sozialisten büßten 105 Sitze ein, obwohl sie prozentual ihren Stimmenanteil in etwa halten konnten. Prominente Sozialisten und Aushängeschilder der Regierung Jospin konnten ihren Wahlkreis nicht gewinnen - so Martine Aubry und Pierre Moscovici. Auch die Fraktion der Kommunisten wurde halbiert. Sie konnten jedoch den Fraktionsstatus mit ihren 21 Sitzen gerade noch halten. Im Desaster endete die Wahl für die Grünen, die nur drei von den acht Mandaten wieder gewonnen haben. Dominique Voynet ist ebenso gescheitert wie KP-Chef Robert Hue. Im Gegensatz zum nationalen Trend konnte die Linke ihre führende Position in Paris jedoch noch ausbauen. Aber für die gauche plurielle und die Bilanz der fünfjährigen Regierungspolitik Jospins insgesamt kommt das Resultat einer Todesanzeige gleich. Die Selbstsicherheit und Selbstgerechtigkeit, mit denen die regierenden Sozialisten, Kommunisten und Grünen auftraten und ihre Erfolge verkündeten, erwies sich als mediale Luftblase. Die Wähler fanden offenbar kein Verständnis für den abgehobenen rot-grünen Polit-Klüngel in Paris. Das Zauberwort, das bei Linken und Grünen kursiert, heißt "refondation", was man mit "Überarbeitung" oder auch mit "Neugründung" übersetzen kann. An eine Wiedervereinigung der seit 1920 getrennt agierenden Sozialisten und Kommunisten denkt freilich niemand laut. Die Grünen rühren unter der Parole "die ganze Linke" die Trommel für eine "alternative Linke". Aber niemand aus der abgewählten Regierungslinken hat in den vergangenen Jahren so viel Kredit verloren bei den sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und anderen Basisorganisationen wie die konturlosen französischen Grünen. Bei den Sozialisten dreht sich die "refondation" im wesentlichen im Kreis, denn es geht kaum um neue politische Inhalte und Konzepte, sondern nur um den Streit der Platzhirsche um die Führungsposition. François Hollande, Laurent Fabius und Dominique Strauss-Kahn repräsentieren zwar auch die verschiedenen Parteiflügel mit ihren "Familien", aber programmatisch ist der "socialisme moderne" (Fabius) ebenso vage wie der "socialisme de production" (Strauss-Kahn). Nach der Sommerpause sollen die "Generalstände der Linken" zusammentreten und über Wege aus dem Formtief beraten.