Silberhöhe gibts nich mehr in Halle

Bühne Das Thalia Theater Halle hat sich unter seiner Intendantin Annegret Hahn neue Theaterformen erobert. So ist es vor fünf Jahren mit dem Theaterprojekt ...

Das Thalia Theater Halle hat sich unter seiner Intendantin Annegret Hahn neue Theaterformen erobert. So ist es vor fünf Jahren mit dem Theaterprojekt Hotel Neustadt ins schrumpfende Halle-Neustadt gezogen. In einem 18-stöckigen, leeren Haus wurde neues Leben inszeniert und diskutiert; man konnte übernachten. Wunderbar spielerisch und zugleich ernsthaft fragte das Theater, wie Jugendliche in sterbenden Stadtteilen leben müssen, welche Hoffnungen und Bilder sie für und von sich entwerfen.

Im Hallenser Stadtteil Silberhöhe lebten 1990 noch 39.000 Menschen, von denen heute 15.000 zwischen Abrissbrachen und leer stehenden Platten wohnen. Die sozialen Konflikte sind groß und das öffentliche Image schlecht. Zwar sieht ein Stadtumbaukonzept die Entwicklung zu einer Waldstadt vor, doch noch spielt sich das Leben der Jugendlichen zwischen Trinkhallen und Skaterplatz, der Saufplatte genannten Tischtennisplatte und der Methadonausgabe "Würfel", dem Volleyballplatz und dem Haus "Bunker" des Kinderschutzbundes ab. Wie sie das und sich sehen, das konnten jetzt einige der Jugendlichen auf der Bühne des Thalia Theaters in Silberhöhe gibts nich mehr zeigen. Als letzte Inszenierung im Kleinen Haus des Theaters, das im Sommer wegen städtischer Sparmaßnahmen geschlossen wird.

Der 26-jährige Regisseur und Autor Dirk Laucke, der mit seinem Stück alter ford escort dunkelblau, für das er 2006 den Kleist-Förderpreis erhielt, eine rasante Karriere gemacht hat, ist in Schkeuditz geboren und in Halle aufgewachsen. Für das Auftragswerk recherchierte er in Silberhöhe. Aus Gesprächen mit Micha, Robert, Janine, David und Tobias entstand ein Stück, in dem die Jugendlichen sich selber spielen. Während die "Experten des Alltags" der Gruppe Rimini Protokoll bühnenwirksam von fertigen Lebensgeschichten erzählen können, haben Lauckes Selbstdarsteller noch keine Möglichkeit gehabt, etwas zu sein. Aber sie besitzen Selbstdarstellungs- und Selbstverwirklichungswünsche. Gezeigt wird nun, wie drei Kumpel einen Film drehen, bei dem das Viertel so aussieht, wie es von der Öffentlichkeit betrachtet wird: als Gangstergetto. Derweil stellt die 16-jährige Jeany ein solides Job-Bewerbungsvideo her. Doch beim Versand ans Fernsehen und das Arbeitsamt werden die Filme verwechselt.

Alle Beteiligten am Theaterprojekt wollten keinen Opferpop und keinen sozialen Voyeurismus. Doch was ist authentisch und was bleibt Realität, wenn es auf dem Theater erscheint? Dirk Laucke hat mit Silberhöhe eine so schlichte wie geniale Form von Wirklichkeitstheater gefunden. Die Filme sind nicht authentisch, sondern übernehmen und bestätigen nur vorhandene Vorstellungen der Realität. Und da die realen Laiendarsteller ihrer selbst, um etwas zu sein, sich nur in vorgefundene Medienbilder und eine virtuelle Geschichte hinein phantasieren können, wird deutlich: Zwar erleben die Jugendlichen eine Realität, doch sie bleibt nicht authentisch, weil für ihre Darstellung nur fertige Medienbilder gefunden werden.

Die Jugendlichen spielen sich selbst und sehen sich in Rollen, in denen sie wahrgenommen werden wollen. Sie posieren, indem sie vorhandene Bildvorstellungen bedienen. Da zieht sich ein Jugendlicher als supercooler Videofilmer einen weißen Fellmantel an und setzt sich eine dunkle Sonnenbrille auf, und wenn ein anderer seinen Camcorder ausleihen soll, kostümiert er sich zum Dschungelkämpfer, schreit "Hass" - und fällt dann zurück aus der Rolle in ein lockeres "Na klar". Das Wunderbare an diesem Abend, das auf neue Weise Authentische, ist, dass die jungen Darsteller auch immer wieder neben sich stehen, sich ironisieren, ihre coolen Posen augenzwinkernd einsetzen. Wenn dann noch eine leichte Unsicherheit beim Sprechen und Vorspielen hinzukommt, dann ergibt sich in der Brechung all dieser Elemente eine Form von "authentischem Theater", das jedem scheinrealistischen Theater von Autoren wie Lutz Hübner, aber auch dem Dokumentartheater von Rimini Protokoll überlegen ist.

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