Sodom und Gomorrha ist gar nichts dagegen, hatte ich vorige Woche einem Bekannten noch am Telefon zu erklären versucht, was denn eigentlich im Snax-Club so abginge. Daran muss ich denken, als sich der Typ mit den kurzen, gekräuselten Haaren vor mir plötzlich umdreht und mitten in die Augen schaut. Elektrisierend direkt. Pechschwarze Nacht hier hinten. Nur eine orangene Funzel erleuchtet die leeren Laderampen vor den Hallen. Wo andere eine Gesäßtasche haben, prangt auf seiner Lederhose ein Reißverschluss. Über seiner Brust spannt ein Gummihemd. Er tut so, als zähle er die Menschen in der langen Reihe quer durch den dunklen Hof. Viele fahren mit dem Taxi vor. Dann dreht er sich wieder um und streicht seinem Begleiter in der zerschlissenen Bomberjacke l
e liebevoll über den rasierten Schädel.Samstag Abend ist Freigang. Der baumlange Bulle da vorne mit dem blauen Totenkopf auf dem Halstuch sieht schon aus wie ein Freibeuter. Im Ostgut wuchert die Nachtseite der Spaßparaden. 500 Meter vom Friedrichshainer Spreeufer hat die Mauer als Kunstdenkmal überlebt. An dem Bild vom Mai ´90: Es gibt noch viele Mauern abzubauen rumpele ich kurz nach Mitternacht über schwere Steinplatten in losem Sand nach links auf leeres Fabrikgelände. Hier gammelt noch das wasteland des Epochenbruchs: rissige Hallen, verrostete Container, tote Gleise. Doch der Schwermetallsozialismus hat sich entmaterialisiert. Das gläserne Umspannwerk neben dem Parkplatz schimmert ultraviolett. Und auf dem Casino im Dachgeschoss des Verwaltungsgebäudes mit den blinden Fenstern gegenüber leuchtet ein kleines Atomium. Von ferne hört man ein sirrendes Wummern.Ich bin durch die Selektion. Der Skin mit dem Drachentattoo auf dem Oberarm lässt immer nur zehn Leute rein. Krachend fällt die Stahltür hinter mir ins Schloss und ein Stempel auf den Handrücken. Drinnen ist es düster, muffig. Die Garderobe liegt im Halbdunkel. Der dürre Rotbart an der schummrigen Bar trägt statt Unterwäsche ein Elch-Geweih. Was ein dünnes grünes Gummiband doch alles halten kann. Ich putsche mich vorsorglich mit Red Bull und einem Snickers auf. Dann geht´s die Rampe runter in die Vorhölle. Die Tanzfläche in der Mitte der Halle ist noch halb leer. Die Tarnnetze über den Stahlrohrtürmen müssen aus NVA- Beständen stammen.Jedes Mal verirre ich mich in dem stillgelegten Industrielabyrinth mit den gesprühten Schablonenzeichen an den gekalkten Wänden. Hinter Gitterschränken stehen grün und blau illuminierte Skulpturen, unerklärliche Hinterlassenschaften eines untergegangenen Zeitalters: riesige Staubtrichter, Spulen. An der Wand fleckige Waschbecken mit Wurzelbürsten, an Porzellanrelais verzweigen sich Elektroleitungen. Durch den hardcore-Techno knistert der Strom der Lust. Die kennt keine Würde. Im backroom unten liegt einer in der Zinkbadewanne und hofft auf gelben Regen. In der fahlen Dusche kauert ein Nackter auf dem Boden. Drumherum lauern regungslos ein paar Schatten an der Wand. Zuviel Endspiel. Wie schaut´s in der Fremdenlegion aus? Über eine wacklige Theatertreppe und durch zwei Gummivorhänge stößt man in den Raum mit den Stahlbetten und Militärkoltern. Matratzen quietschen. Männer stöhnen. Ein süßer Duft hängt im Raum. Stocksteife Luft. Mir rinnt der Schweiß. Dem Gummimann auch, der mir plötzlich entgegenkommt. Hinter dem Tarnnetz treffe ich G. Ist der Camoufleur jetzt indigniert, mich hier zu sehen? Oder guckt der nur so kurzsichtig, weil er die Brille ausgezogen hat? In der Totenmesse ist es luftiger. Rote Friedhofslichter flackern in den rostigen Spinden. Dicke Trauben stehen um die Opferlämmer, die in den schwarzen Gehängen schaukeln. Noch sind die Fetttiegel unberührt. Welcome to the Slinger-Club. Andächtig schaue ich auf die Körperwelten. Wieder steht der Gummimann neben mir. Willst du mich, fragt er? Klar will ich. Schon wegen dieses Reißverschlusses. Sein Gummihemd knirscht. Eine Mauer fällt.Später stehen wir an der Tanzfläche. Er pellt sich aus seinem Gummihemd, streicht seinem Freund liebevoll über den verschwitzten Schädel. Auf dem Podium hüpft der blonde DJ im olivgrünen Netzhemd und dem Kopfhörer vor dem Bild mit dem sowjetischen Soldaten und dem Mädel mit dem Kopftuch. Der Lärm schwillt ins Unerträgliche. Doch aus dem dumpfen Beat, der ihn grundiert, steigt langsam ein feiner Choralgesang. Das Stroboskopgewitter verlangsamt sich. Entschleunigung im Inferno. Standbilder von Schweißgebadeten mit nassen T-Shirts an den Jeansgürteln. Erigierte Brustwarzen. Weit aufgerissene Augen. Oben treten Männer in schwarzen Lederhosen und nackten Oberkörpern auf die Drahtzaungalerie und rütteln an den Gitterstäben: Sing, sing! Sieh dich nicht um!