Ihr bestes Publikum findet Judy Garland ausgerechnet auf der Straße: zwei Gentlemen, die nach einer Show der Hollywood-Diva am Bühneneingang stehen und als Einzige um Autogramme bitten. Es ist das Jahr 1968, Garland spielt einige Wochen lang Greatest-Hits-Shows in London, weil sie in den USA niemand mehr buchen will. Das schwule Pärchen kann sein Glück kaum fassen, als Garland sich für ein Mitternachtsdinner zu ihnen nach Hause einlädt. Sie sind derart bewegt, dass sie nicht mal mehr Rührei hinkriegen. Dann setzt Garland sich ans Klavier und singt eines ihrer berühmten Lieder: Get Happy, allein, ohne Glitzer, ohne Pomp und Trara. „It’s all so peaceful on the other side.“ Ein Song für die Ausgestoßenen und Vergessenen, die
ssenen, die sich freuen, dass die Qualen im irdischen Jammertal irgendwann vorbei sein werden.Die Szene ist eine der rührendsten in Judy, einem Biopic mit Renée Zellweger in der Hauptrolle. Garland war eine der größten Entertainerinnen aus der goldenen Hollywood-Ära, und sie war eines der vielen Opfer, die in der Unterhaltungsmaschinerie unter die Räder kommen. Schon als Kleinkind stand sie auf der Bühne, mit der Rolle der Dorothy in The Wizard of Oz von 1939 wurde sie als Teenager weltbekannt. Judy rollt ihr Leben allerdings von hinten auf, aus der Perspektive der gefallenen Heldin, die komplett am Ende ist. Kaputte Stars machen eben mehr her. Und bei Garland ist da einiges zu holen.Die Handlung des Films spielt wenige Monate vor Garlands Tod. Sie bekommt seit Jahren keine Filmrollen mehr, auch kleinere Engagements platzen, entweder wegen ihrer notorischen Unzuverlässigkeit oder wegen des Rufs, der ihr in dieser Hinsicht vorauseilt. Sie tingelt mit ihren zwei kleinen Kindern durch Clubs, um die Hotelrechnung für die nächste Nacht zu bezahlen. Was nicht immer klappt. Ein richtiges Zuhause gibt es nicht. Dann tut sich die Chance für die Konzerte in London auf, bei denen der Glamour und das Drama ihres Lebens nochmals geballt zur Aufführung kommen.Garlands vielfältige Probleme – finanziell, gesundheitlich, emotional – werden in Judy zugespitzt auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Sie muss ihre Kinder beim Ex-Mann in den USA lassen, um im Ausland das Geld zu verdienen, mit dem sie ihnen irgendwann wieder eine Zukunft bieten kann. Ihre bewegte Vergangenheit wird eingedampft auf eine Episode: die Dreharbeiten zum Wizard of Oz und die Gängelungen, denen eine junge Schauspielerin im Studiosystem der 1930er Jahre ausgesetzt war. Garland war 17, wurde für die Rolle aber auf noch jünger getrimmt, mit Zöpfchen und Korsett und vor allem mit einer Radikaldiät aus Filterkaffee und Amphetaminen.Die Drogensucht begleitete sie ihr Leben lang, sie sollte 1969 mit 47 Jahren daran sterben. Die Rückblenden, die in Judy als Alleserklärer für die Schieflagen in Garlands späterem Leben herhalten, sind so märchenhaft inszeniert, als wäre das einstige Hollywood nie real gewesen. Und als wären ungleiche Machtverhältnisse kein Thema mehr.Gleich weint sie wiederDer Kunstgriff, ein Leben von seinem Ende her zu erzählen, ist ein bewährter Biopic-Standard. Judy bietet in der Hinsicht wenig Überraschungen, der Film ist sehr solide verarbeitete Ware von der Stange. Rupert Goold, der britische Regisseur des Films, ist im Theater zu Hause, Judy ist nach True Story (2015, mit Jonah Hill und James Franco) erst sein zweiter Kinofilm. Das Drehbuch hat Tom Edge von einem Bühnenstück über Garland adaptiert, dem Musical End of the Rainbow. Aus mehreren Gründen suchen die Filmemacher die großen Momente ihres Stoffs also vor allem auf der Showbühne. Auch abseits davon wollen sie das Theaterspiel aber nicht bleiben lassen.Denn der Film gehört einzig und allein Renée Zellweger. Ihr Schauspiel bleibt nachhaltig in Erinnerung, auch weil sie es mitunter ganz schön übertreibt. Sie legt ihre Judy als gekrümmten Hungerhaken in edlen Stoffen an, als Bündel aus Ticks und Überaffektiertheit. Wenn Zellweger ihren Mund zur Lipstickschnute verkrampft, wird er zu Garlands Allzweckwaffe für Misstrauen, Freude, Ratlosigkeit, Wut und die Sekunden kurz vor dem nächsten Tränenausbruch (im Publikum). Das ist äußerst effektiv, in den Szenen off stage allerdings manchmal hart an der Grenze zur Karikatur. Bei der Performance von Garlands großen Hits auf der Bühne funktioniert es aber umso besser, ob sie nun betrunken übers Parkett stolpert und das Londoner Publikum beschimpft oder sich aus ihrem Lampenfieber und Selbstmitleid zu wahren Sternstunden emporschwingt.Wie in Musikbiografien mittlerweile zur Pflicht geworden, hat Zellweger die Lieder, die Garland interpretierte wie keine andere, selbst eingesungen. Sie flüstert und schmachtet und schreit damit regelrecht nach ihrem zweiten Oscar. Ihre Chancen stehen gut. Dafür, dass Zellweger zeigt, wie die Filmindustrie ihr Menschenmaterial verheizt, könnte sie wiederum mit deren höchsten Weihen belohnt werden.Und es gibt noch mehr schizophrenen Zynismus an der Sache: Garland hatte dieses Biopic über ihr Leben im Grunde selbst schon gedreht. I Could Go On Singing aus dem Jahr 1963 war ihr letzter Spielfilm, kein großer Erfolg. Garland spielt darin eine Sängerin, deren Ruhm schon etwas verblasst ist, die für einige Konzerte nach London kommt und als Mutter einfach nur mit ihrem Sohn zusammen sein möchte, aber schließlich loslassen muss. Was aus diesem Stoff noch alles an ekstatischer Tristesse und todtraurigem Glamour zu holen wäre, das deuten jetzt auch Szenen wie die mit dem Get-Happy-Rührei an. Letztlich ist Judy aber auf Renée Zellweger und ihre Oscar-Ambitionen zurechtgestutzt worden.Placeholder infobox-1