Stadt als Drama

Im Kino "Berlin Babylon" zeigt ein Berlin, das man zu kennen meint, ohne zu wissen woher

In der Hochzeit der Berliner Bauwut, in den späten neunziger Jahren eines bereits vergangenen Jahrhunderts, ist Hubertus Siegert immer wieder hinter die Bauzäune gegangen und hat den Protagonisten und Geburtshelfern des neuen Berlin über die Schulter geschaut. In manchmal erschreckend schönen, dann wieder verblüffend banalen Bildern zeigt er Momente, in denen über die Stadt gesprochen wurde, und Momente, in denen an ihr gebaut wurde. Wenn sein Film Berlin Babylon nun in den Kinos läuft, ist er bereits ein Zeitdokument. Die Topographie, die er zeigt, lässt sich so schon nicht mehr wiederfinden. Das Spannungsfeld zwischen der Flüchtigkeit des Moments und der Nachhaltigkeit seiner Wirkung offenbart sich nun im Kino.

Wo in Berlin nicht am Zukünftigen gebaut wird, überlagert sich Vergangenheit gleich schichtenweise. Das Jetzt wird zum Provisorium und findet seinen Ausdruck in den gelben Container-Städten auf den Großbaustellen, in veränderter Straßenführung und umgeleiteten Flussläufen. Seit dem Fall der Mauer gibt sich Berlin als eine Stadt ohne Gegenwart. Wenn man nun diese Gegenwart, die nicht stattgefunden hat, in Berlin Babylon doch zu sehen bekommt, hat sie etwas Unheimliches. Die Bilder lösen sich aus dem dokumentarischen Kontext und verdichten sich auf einer neuen Ebene zum Bild einer Stadt, die man zu kennen meint, ohne dass man sagen könnte, woher.

Anstatt das Gesehene eilig zu benennen und ihm mit der Akribie des Archivars einen Platz zuzuweisen, gönnt sich der Film die Distanz des ethnologischen Blicks. Scheinbare Banalitäten werden zu geheimnisvollen Zeichen: Innenhöfe erinnern an Gefängnishöfe, obsolet gewordene Gebäude sinken ächzend zu Boden wie tödlich getroffene Dickhäuter. Ein bemannter Zementtrichter schwebt minutenlang über dem Rohbau, auf dem er seine Last ablassen soll, als sei das Kreisen über dem Zielgebiet Teil eines symbolischen Manövers. Andernorts wird unter Anrufung Gottes ein Kassiber in den Grundstein versenkt. Im nächsten Bild machen sich Arbeiter mit einem Presslufthammer daran, ihn wieder auszugraben, um ihn an anderer Stelle im Fundament zu versenken. Was in Wirklichkeit planmäßig verläuft, erscheint dem, der den Plan nicht kennt, als Sabotageakt.

Anstatt zu interviewen, beobachtet die Kamera die Protagonisten in alltäglichen Arbeitssituationen. Indem sie namenlos bleiben und die Untertitel lediglich ihre Rollen enthüllen, erscheinen sie als Figuren eines zeitlosen Dramas: der Architekt, der Investor, die Dezernentin, der Polier, die Stadt. Wie die Legende vom Turmbau zu Babel bekommt das Bauvorhaben Berlin damit etwas Archetypisches. Stets mischt sich in das Zufällige ein Anteil des Inszenierten. Obwohl der Film mehr erzählt als dokumentiert, verliert das Gezeigte keineswegs an Authentizität. Vielmehr entsteht so der gar nicht trügerische Anschein, dass das Authentische längst Anteile des Inszenierten in sich aufgenommen hat. Der Architekt vor seinem Modell, der Investor auf seinem Grundstück, der Bundeskanzler an seiner Gedenkstätte: Der Wille zur Inszenierung liegt bereits im Rohmaterial des dokumentarischen Bildes. Geradezu folgerichtig bewegen sich Bauherren und Politiker wie Darsteller in den von ihnen selbst zu verantwortenden Kulissen.

In seinen fragmentarischen Überlegungen zum Begriff der Geschichte schreibt Walter Benjamin: "Vergangenes historisch artikulieren, heißt nicht, es erkennen, ›wie es denn eigentlich ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt." Ganz in diesem Sinne bemächtigt sich Siegert seines Materials. Die Bilder dramatisieren die Stadt und erzählen von diesem Augenblick der Gefahr, in dem sich Hellsichtigkeit und Sorge verbinden. Die Gefahr, um die es geht, assoziiert bereits der Filmtitel: dass das blindwütige, von sich selbst euphorisierte Bauen alle Chancen der Verständigung verschenkt. Dass die Stadt, wenn sie einmal fertig ist und die Kräne verschwunden sind, sich in Disharmonien ohne jede Dialektik erschöpfen wird, in stadtplanerischen Monolithen, die längst aufgehört haben, reizvoll zu sein, die ihr Woher und Wohin nicht verraten und ihrer Umgebung nichts zu sagen haben.

Manchmal meint man in Berlin Babylon der Stadt beim Träumen zuzusehen. Das Aufwachen aus diesem Traum steht allerdings noch aus. Wir sind immer noch in der Gegenwart.

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