In der ungestüm galoppierenden Diskussion über die Rückkehr zur „Normalität“ sind in den USA manche Leben eindeutig mehr wert als andere. Kongressabgeordnete und Unternehmer haben einen anderen Stellenwert als Arbeiter im Schlachthof und die Verkäuferin beim Discounter. Die Loser, die Verlierer, hat Donald Trump schon immer verachtet.
Die Debatte darüber nimmt zusehends die Züge eines Kulturkrieges an, den der „Kriegspräsident“ gegen die Medien und die Wissenschaft führt. Dass Trump nach Jahren der Attacken auf den Regierungsapparat nun eine Nation mit Tendenz zum „Failed State“ regiert und Chaos verbreitet bei Coronavirus-Pressekonferenzen, heißt noch lange nicht, dass er die Präsidentenwahl im November verliert. Trump macht Wahlkampf in Zeiten von Covid-19. Für seine Leute ist er ein Anker inmitten unsicherer Zustände und des Heimwehs nach einer verlorenen Welt.
Kugelsichere Westen
Mehr als 1.500 Menschen sterben in diesem Land derzeit täglich an der Virusinfektion. Von einem „Abflachen der Kurve“ sind viele Bundesstaaten weit weg. In etwa 20 der 50 Staaten bewegt sich die Kurve für neue Fälle nach oben. Doch es lärmen vornehmlich Trumps Gesinnungsgenossen und Vertreter der Wirtschaft, man müsse das Land jetzt wieder öffnen. Der eine oder andere fühlt sich beeinträchtigt durch Restriktionen und stellt hehre Grundsatzfragen über bürgerliche Freiheiten – Solidarität hat es schwer. In mehreren Staaten wurde gegen Einschränkungen protestiert. In Michigan zogen Hunderte ins Capitol des Bundesstaates, manche bewaffnet. Isolierung gesunder Menschen sei Tyrannei, hieß es. „Sehr gute Leute, aber sie sind zornig“, twitterte Trump. Manche Abgeordnete zogen kugelsichere Westen an.
Trotz Virus: Schweinerippchen und Hamburger müssen sein. Das 150.000 Einwohner zählende Sioux Falls im ländlichen South Dakota ist ein Coronavirus-Hotspot. Im Schlachthof des Konzerns Smithfield Foods töten und verarbeiten etwa 3.700 Arbeiter täglich viele Tausend Schweine. Mehr als 700 von ihnen sind laut der Lokalzeitung Argus Leader positiv getestet worden. Der Betrieb wurde Mitte April vorläufig stillgelegt. 115 Fleischfabriken in 19 Staaten seien vom Virus betroffen, berichtete die Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention. In einem Werk in Nebraska haben 2.000 Beschäftigte Ende April vorübergehend die Arbeit niedergelegt. Arbeiter blieben weg, weil sie krank sind oder nicht für ein Steak krank werden wollten. Trump hat zur gleichen Zeit eine Exekutivanordnung unterzeichnet: Schlachthöfe müssten aufmachen. Zu dieser Order legitimiere ihn ein auf den Korea-Krieg (1950 – 1953) zurückgehendes Gesetz zum Schutz industrieller Produktion. Zuvor hatte er diese Verordnung geltend gemacht, um die Produktion von Beatmungsgeräten anzukurbeln.
Die Realität ist für Politiker in Washington rücksichtsvoller als für Arbeiter bei Smithfield. Trump hat das Weiße Haus wochenlang nicht einmal zum Golfen verlassen. Er und seine Mitarbeiter werden häufig getestet. Die Kongressabgeordneten verschoben Anfang Mai ihre Rückkehr nach Washington, das Gesundheitsrisiko sei zu hoch. In der Hauptstadt mit ihren 700.000 Einwohnern gab es zu diesem Zeitpunkt rund 5.000 bestätigte Corona-Fälle. Die USA sind Spitzenreiter bei Infektionszahlen, 70 Infizierten Anfang März stehen mehr als 1,1 Millionen Anfang Mai gegenüber. Trump betont unablässig, seine Regierung habe alles richtig gemacht. Schwiegersohn und Berater Jared Kusher spricht von einer „großen Erfolgsgeschichte“. Trump hat die Öffentlichkeit derart dressiert mit seinen Lügen, dass diese Sprüche kaum mehr für Entrüstung sorgen. Gefolgsleute glauben eher dem Führer als Experten und Medien.
Viele Menschen in den USA blicken neidisch auf Deutschland, Südkorea und andere Nationen, wo Verbreitung und Sterben gebremst oder gar gestoppt wurden. Von einer nationalen Strategie kann in den USA keine Rede sein. Gouverneure und Bürgermeister sind auf sich selber gestellt bei Schutzkleidung und Test-Kits. Larry Hogan, der Gouverneur von Maryland, hat dank der Vermittlung seiner aus Südkorea stammenden Ehefrau Yumi Hogan dort eine halbe Million Test-Kits gekauft. Er sei besorgt gewesen, die US-Regierung werde diese für sich selber beschlagnahmen, sagte Hogan in der Washington Post. Die Kits würden nun an einem geheimen Ort von Marylands Nationalgarde bewacht.
Was Trump hilft: Die Pandemie wird unterschiedlich erlebt. Zu den Staaten mit gegenwärtig stark ansteigenden Zahlen von Neuinfizierten gehören manche im ländlichen und republikanisch geprägten Mittleren Westen, darunter Kansas, Indiana, Iowa und Nebraska. Doch die meisten Menschen haben sich bisher in Großstädten infiziert und in Regionen, die als Trump-kritisch gelten. Zu mehr als der Hälfte aller Todesfälle kam es in den Ostküstenstaaten New York, New Jersey und Massachusetts – demokratisches Territorium. Afroamerikaner und Latinos sind weit überproportional betroffen. Sie leben eher in Armut, haben eine schlechte medizinische Versorgung und arbeiten häufig in Dienstleistungsjobs, was viele Kontakte mit anderen Menschen bedeutet. Das sind die Leute, die an den „Frontlines“ der Einkaufszentren stehen, wenn eine vermeintliche Normalität zurückkehren soll. In den Viehhöfen arbeiten überwiegend Latinos und Afroamerikaner.
Spalten, spalten, spalten
Wenn Trump redet, richtet sich das an seine Leute – die Frustrierten, die niemanden mit Covid-19 kennen und dennoch ihre Arbeit verloren haben. Die sich bevormundet fühlen. Mit dieser Strategie des Spaltens der Gesellschaft, bei der nur einer Hoffnungsträger ist – nämlich er –, hat es Trump vom Reality-TV-Star zum Präsidenten gebracht und bisher die Opposition frustriert. Lockern ist schwierig, doch irgendwann muss es passieren. Nur wann und in wessen Interesse? Etwa die Hälfte der Bundesstaaten macht sich daran, strenge Regeln wieder aufzuheben, besonders republikanisch regierte, darunter Texas, Nebraska und Georgia, wo die Neuinfektionen nicht zurückgehen, häufig gar steigen. Arbeiter in Restaurants, Geschäften und Betrieben, die ihre Stellen verloren haben wegen des Virus, werden zurückkehren müssen, auch wenn die Arbeitsbedingungen ihrer Ansicht nach gefährlich sind.
Für Verweigerer gebe es kein Arbeitslosengeld, zitiert politico.com eine Sprecherin des Arbeitsministeriums von Georgia, das klinge hart, „aber das steht in den Richtlinien“. Republikaner wollen Arbeitgeber beim Covid-19-Komplex mit einem Gesetz vor Schadensersatzklagen schützen.
Kommentare 1
Offensichtlich befinden Sie sich immer noch im Wahlkampfmodus 20216:
»Mehr als 1.500 Menschen sterben in diesem Land derzeit täglich an der Virusinfektion. Von einem „Abflachen der Kurve“ sind viele Bundesstaaten weit weg. In etwa 20 der 50 Staaten bewegt sich die Kurve für neue Fälle nach oben.«
Was Sie auslassen, ist die Corona-TODESRATE in den USA, die Ihre Sensationsberichterstattung jedenfalls nicht unterstützt, ihnen aber offensichtlich nicht in den Kram passt:
Johns Hopkins University (JHU), Baltimore, USA: Mit Stand vom 10.05.2020, 18 Uhr, lag die Zahl der zertifizierten Coronafälle bei 1.312.099 und die Zahl der Todesfälle bei 78.862, liegt die Todesrate in den USA bei 6,01 Prozent, in Frankreich bei 14,88 Prozent, in Italien bei 13,93, in GB bei 14,62 und selbst noch in den Niederlanden bei 12,75 Prozent. „Niedrige“ Todesraten hat auch Deutschland: 4,40 Prozent.
Und noch einmal extra ganz großgeschrieben: Die Todesrate lag in GB gestern bei 14,62 Prozent.
Aber Sie befinden sich in bester Gesellschaft:
Bei Roland Nelles hieß es am 29.04.2020, 05.48 Uhr: Amerika erreicht traurigen Corona-Rekord
Und er agitiert:
»Das heißt, obwohl die USA mit ihren 330 Millionen Einwohnern weniger als fünf Prozent der Weltbevölkerung stellen, stehen sie für ein Drittel aller bekannten Infektionen. Von den 200.000 registrierten Toten weltweit kamen bislang mehr als 57.000 aus den USA.«
Ich habe ihn per Email korrigiert: „Sie sind ja für Ihre einseitig/fanatische Agitation gegen Donald Trump seit 2016 bekannt, werden dafür bezahlt.
Lt. Johns Hopkins University (JHU), Baltimore, USA | Stand 28.04.2020, 18 Uhr, liegt die Todesrate in den USA bei 5,7 Prozent, in Frankreich bei 14,05 Prozent, in Italien bei 13,53, in GB bei 13,36 und selbst noch in den Niederlanden bei 11,87 Prozent.“
…
Bei Hubert Wetzel hörte sich das am 1. Mai 2020, 18:08 Uhr, so an: Amerika zerbricht
»Das Coronavirus hat schon mehr Amerikaner getötet, als im gesamten Vietnamkrieg gestorben sind. Der Präsident aber führt Wahlkampf - und will Chaos säen, um zu gewinnen.«
Sein Kollege von de24.news hat es gerne noch sensationeller:
»Mittlerweile sind mehr Amerikaner an Coronaviren gestorben als im Vietnamkrieg, wobei mehr als eine Million Fälle aufgetreten sind. Bei dem Konflikt von 1955 bis 1975 kamen 58.220 US-Soldaten ums Leben.« Welch pathologische Schlussfolgerung!
Für diese abenteuerlichen Zahlen orientiert er sich an der Sensationsberichterstattung von Reuters:
»Die Zahl der US-Todesopfer seit dem ersten, am 29. Februar verzeichneten Coronavirus-Tod erreichte am Dienstag 58.233 [28.04.2020, eig. Anm.], mehr als 2.000 mehr als am Vortag. Dies geht aus einer Reuters-Bilanz hervor.«
Ganz anders die Zahlen der Johns Hopkins University (JHU), Baltimore, USA: Mit Stand vom 28.04.2020, 18 Uhr, lag die Zahl der zertifizierten Coronafälle demnach bei 990.135 und die Zahl der Todesfälle bei 56.475, liegt die Todesrate in den USA bei 5,7 Prozent.
…
Roland Nelles und Hubert Wetzel habe ich zu dem mit Emails darauf hingewiesen – und tue es das jetzt auch bei Ihnen:
Ob die hohe Zahl zertifizierter Infizierter in den USA nicht irgendwann sogar ein Vorteil sein könnte, muss sich noch erst herausstellen. Ein Virus ist bekanntlich so lange virulent, bis Bevölkerung eine ausreichende Immunisierung erreicht hat. Bei den Masern z.B. sind das 95 Prozent, eine Zahl, an der sich u.a. auch der Niederländische Ministerpräsident Mark Rutte orientiert.
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»Trotz Virus: Schweinerippchen und Hamburger müssen sein. Das 150.000 Einwohner zählende Sioux Falls im ländlichen South Dakota ist ein Coronavirus-Hotspot…«
Noch nicht mitbekommen? In deutschen Schlachtbetrieben sind Hunderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter positiv auf das Corona-Virus getestet worden. Mehr als 200 bestätigte Fälle gibt es bislang bei Westfleisch in Coesfeld. Bei Tönnies in Gütersloh werden ab dem heutigen Montag (11. Mai 2020) Massentests durchgeführt. Dazu erklärt Sascha H. Wagner, gesundheitspolitischer Sprecher von DIE LINKE NRW: „Bereits vor der Auswertung aller Tests ist klar: „Den Preis für billiges Fleisch und billige Wurst für den deutschen Markt zahlen einmal mehr die in den Schlachtbetrieben beschäftigten Arbeitsmigrant*innen mit ihrer Gesundheit.“
„Es ist die richtige Entscheidung, dass das Verwaltungsgericht Münster am Sonntag (10. Mai 2020) einen Eilantrag der Firma Westfleisch gegen die befristete Schließung des betroffenen Schlacht- und Zerlegebetriebes abgelehnt hat. Die Bedingungen, unter denen die überwiegend aus Osteuropa stammenden Mitarbeiter*innen arbeiten und leben müssen, machen sie besonders anfällig für Ansteckungen: In vollen Bussen werden die Arbeiter*innen zu und von der Arbeitsstelle gebracht. Auch wenn die Beschäftigten nicht in Sammelunterkünften untergebracht sind, leben vermutlich zu viele Menschen in einer Wohnung zusammen. 60 Stunden Arbeit an sechs Tagen in der Woche sollen zudem keine Seltenheit sein“, beklagt Wagner die Zustände bei Westfleisch.
Die deutsche Fleischindustrie steht wegen der Arbeits- und Unterkunftsbedingungen seit vielen Jahren in der Kritik. Branchenkenner sind deshalb nicht davon überrascht, dass es dort nun so viele Infektionen gibt. Kennzeichnend für sie: Gemeinschaftsunterkünfte für faktische Wanderarbeiter, die in Sammelbussen zu wechselnden Betrieben gefahren werden. – IN DEUTSCHLAND, hören Sie.
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»Trump hat das Weiße Haus wochenlang nicht einmal zum Golfen verlassen. Er und seine Mitarbeiter werden häufig getestet. Die Kongressabgeordneten verschoben Anfang Mai ihre Rückkehr nach Washington, das Gesundheitsrisiko sei zu hoch.«
Ich vermag nicht zu erkennen, was daran zu beanstanden ist? Darf ich daran erinnern, dass Boris Johnson einen dramatischen Corona-Krankheitsverlauf hinter sich hat, dass Angela Merkel eine häusliche Quarantäne einhielt, nachdem sie sich leichtsinnigerweise von einem coronainfizierten Arzt hatte impfen lassen?
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»In der ungestüm galoppierenden Diskussion über die Rückkehr zur „Normalität“ sind in den USA manche Leben eindeutig mehr wert als andere. Kongressabgeordnete und Unternehmer haben einen anderen Stellenwert als Arbeiter im Schlachthof und die Verkäuferin beim Discounter.«
Was – um Gottes Willen – ist daran spezifisch amerikanisch, außer der amerikanischen Sprache?
Gibt es speziell hier in NRW nicht auch einen hyperkinetischen Ministerpräsidenten, dem die Lockerung der Restriktionen nicht schnell und nicht weit genug geht?
Was nörgeln Sie an Donald Trumps Corona-Management herum, wo doch auch die deutsche Bundeskanzlerin nur so lange Deutschlands Corona-Managerin war, wie das die deutschen Provinz-Fürsten (Gouverneure) zuließen.
Und hier noch etwas Herzerfrischendes: Trump lässt Reporter mit Fake News auffliegen: "Wirst du dich jetzt entschuldigen?"
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Und ob der Mann die kommenden Präsidentschaftswahlen gewinnt, ist völlig unerheblich. Amerikanische Präsidenten sind alle aus demselben Holz geschnitzt. Was sich unter Trump geändert hat, ist die Rhetorik – mehr nicht.