Sündenböcke

Kommentar Neuauflage für "Politbüroprozess II"

An jenem Tag, da mich eine Potsdamer Zeitung mit der Titelzeile "Immer mehr Brandenburger müssen von Sozialhilfe leben" erschreckte, lieferte sie mir auf der zweiten Seite die Mitteilung "Freispruch für SED-Größen aufgehoben" gewissermaßen als Beruhigungspille gleich mit. Wegen "Totschlags" müssten drei einstige Politbüromitglieder erneut vor Gericht.

Zur Erinnerung: im zweiten Politbüroprozess waren Herbert Häber, Hans-Joachim Böhme und Siegfried Lorenz im Juli 2000 vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen worden. Dieses Urteil war klug und weise, gab es doch allen zu verstehen, dass Vergangenheitsbewältigung nicht nur strafrechtlich erfolgen darf und kann. Nach DDR-Recht, das nach dem Einigungsvertrag anzuwenden war, hätte ohnehin der Kausalzusammenhang zwischen einer Pflichtverletzung und dem eingetretenen Tod bewiesen werden müssen. Ein solcher Zusammenhang war nicht belegbar. Nun hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) das Urteil des Berliner Landgerichts aufgehoben, weil es "sachlich-rechtlicher Prüfung" nicht standhalte. Der BGH vertritt die Auffassung, dass bereits Pflichtverletzung für eine Verurteilung ausreiche und weicht insofern von der DDR-Rechtsprechung ab. Besonders absurd ist die jetzige Entscheidung bei Herbert Häber, der zum Zeitpunkt der ihm zur Last gelegten Todesfälle an der DDR-Grenze schon aus dem Politbüro entlassen war. Wir werden also als Begleitkonzert zum Fortschreiten der allgemeinen sozialen Misere die Neuauflage eines Politbüroprozesses erleben, dessen Resultat keineswegs mehr ein Freispruch sein dürfte. Das steht wohl jetzt schon fest. Angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit wird andererseits auch kaum mehr als eine Bewährungsstrafe verhängt werden können.

In einer Zeit der Krise hätte der sich abzeichnende Sturm im Wasserglas immerhin den Sinn, dass wieder einmal Sündenböcke präsentiert werden können. Da wird Neues kaum zu erwarten sein.

Gespannt aber dürfen wir auf die Argumentation deutscher Richter hinsichtlich der Klage des Berliner Rechtsanwalts Ulrich Dost sein, mit der die Bundesrepublik Deutschland im Namen der Bombenopfer der jugoslawischen Kleinstadt Varvarin zur Verantwortung gezogen werden soll. Am 30. Mai 1999 - einem Sonntag, Markttag und dem Fest der Heiligen Dreifaltigkeit - hatten in Varvarin auf NATO-Befehl zwei Flugzeuge eine Brücke mit Raketen beschossen und dabei zehn Menschen getötet, 30 wurden verletzt. Der Angriff auf Varvarin war völkerrechtswidrig und verstieß gegen das Grundgesetz; ungeachtet dessen hatte die rot-grüne Bundesregierung seinerzeit der Bombardierung zugestimmt. Man darf gespannt sein, was dazu deutsche Richter entscheiden werden. Wenn schon Sündenböcke, dann bitte alle und die richtigen!

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