"Nothing is real ... But it´s all wrong" (John Lennon)
Fast auf den Tag genau drei Monate nach dem größten Medienspektakel der Neuzeit präsentiert uns CNN die Auflösung des Bin Laden-Krimirätsels. Wie Schuppen fällt uns von den Augen, was George Bush - der Sprecher des Vizepräsidenten Dick Cheney - uns Ungläubigen und Unwissenden predigte: dass der Führer von al-Qaida der leibhaftige Teufel ist, verantwortlich für die verheerenden Anschläge auf WTC und Pentagon. Somit hat der Millionärssohn aus Texas Anspruch auf die von ihm ausgelobten 25 Millionen Dollar Preisgeld, die auf den Kopf von al-Qaida gesetzt sind.
Bush verfügte freilich über inzwischen eingestandenes Insiderwissen als Miteigner einer Bank, die zur Hä
k, die zur Hälfte bin Laden gehört. Deshalb wurden seitens des US-Justizministeriums weder Kosten noch Mühe gescheut, das auf wundersame Weise in Jalalabad aufgefundene Video für alle nichtarabischen Weisen und Narren lesbar zu gestalten und den unvermeidlichen Fälschungsvorwurf der Verschwörungstheoretiker aller Länder überzeugend zu entkräften.Medienexperten der ersten Welt haben das corpus delicti nach kritischer Betrachtung als hochgradig authentisch eingestuft. Freilich stand keinem der medialen Hohepriester das Original zur Ansicht, und sie müssten wissen, dass die explizite Wahrheit audio-visuellen Materials weder im Material, noch in seiner technischen Verfertigung zu finden ist, sondern in seiner rezeptiven Wahrnehmbarkeit. Ohne das Wissen um den 11.September würde der Betrachter nichts sehen als eine Gruppe arabischer Märchenerzähler, die um den Nasreddin-Hodscha-Preis für die beste Lügengeschichte wetteifern. Die Banalität des BösenAlle führenden Zeitungen haben die Worte des Self-Made-Propheten Osama bin Laden kommentiert und, gemäß der politischen und religiösen Neigung ihrer Leser, für gerichtsrelevant oder juristisch belanglos befunden. Gleich Sophistikern der Koranschulen haben abendländische Kolumnisten jedes Wort auf die Goldwaage der Semantik gelegt, um die letzten Skeptiker - sich selbst eingeschlossen - zu überzeugen. Dabei gab es nichts zu finden, was zwischen den Zeilen steht, auch keine codierte Botschaft an die schlafenden Jünger des Propheten. Fazit: Das dilettantische Jalalabad-Video beweist, wie die perfiden Watergate-Tapes, einmal mehr Hannah Arendts These von der Banalität des Bösen. Alle Zweifel sind somit beseitigt - die üblichen Verdächtigen werden dem Henker überstellt.Doch es bleibt die Frage im Raum, wozu wir eigentlich gebeten waren als Augenzeugen und welche Wahrheit sich hinter den Videobildern versteckt. Seit Erfindung der Fotografie wissen wir, dass Wirklichkeit eine Illusion ist und gefilmte Wahrheit eine künstlerische Kategorie, keine juristische oder politische. Wer immer das evidente Video zufällig oder absichtlich in die Hände Amerikas spielte, wollte gewiss nicht, dass es unveröffentlicht bleibt. Der Streifen kann als Testament Osama bin Ladens gelten, wenn er längst tot ist oder spurlos verschwunden, wie der dem Wahnsinn verfallene Kalif (996-1021), der noch heute von der Drusen-Sekte als Messias erwartet wird.Ironie des Schicksals - die Amerikaner haben an der weltweiten Verbreitung des selbst für Moslems schwer verständlichen Wortlauts des al-Qaida-Propheten fleißig mitgewirkt. Für sie ist damit der demokratischen Gerechtigkeit, die des juristischen Beweises bedarf, Genüge getan. Gleichzeitig ist die Personifizierung des Bösen als "Video des Jahres" per Internet kanonisiert und kann die offene Wunde WTC schließen helfen, wenn auch nicht heilen. Für die Dritte Welt ist - je nach Borniertheit oder Verzweiflung - ein neuer Messias oder eine falsche Hoffnung ins Reich der Mythen eingegangen, dessen wichtigste Erzählkunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit Film und Video sind. Schon zu Lebzeiten ist OBL bekannter als F.D.R., J.F.K. und O. J. Simpson. Ein traumatischer Drang nach Anerkennung bestimmt seinen erstaunlichen Werdegang vom CIA-Protegé zum Staatsfeind Nr.1 der freien Welt, erklärt jedoch nicht seinen mörderischen Wandel vom Paulus zum Saulus. Oder doch? Was, wenn Bin Laden kein Irrläufer verfehlter US-Außenpolitik ist, sondern ein nützlicher Idiot, der aus durchaus privaten Gründen zur Legende werden will, indem er jene, die ihm dabei halfen, zwingt, ihn zu beseitigen und so unsterblich zu machen? Was wir Konsumidioten nicht begreifen, ist, dass ein Milliardär nach dem Jenseits strebt, statt sein Geld in Mallorca zu verjubeln. An ihm muss sich messen lassen, wer ohne Nobelpreis post mortem die Buchläden füllen will. Wie Eurydike zu OrpheusBin Laden kann beruhigt abtreten, schon jetzt gibt es Dutzende Bücher über ihn. Und mehr die Männer- und Frauenwelt gleichsam verstörende Videos als von Madonna. Je öfter und genauer man auf sie schaut, desto weniger sieht man freilich. Heisenbergs fundamentales Unschärfeprinzip, wonach es kaum möglich ist, zu begreifen, was ein Elektron tut, während man es betrachtet, aber unmöglich, zu erahnen, was es tut, wenn man es nicht betrachtet, lässt den logischen Schluss zu, dass wir bei Ansicht des OBL-Videos trotz aller Echtheitszertifikate an der Nase herumgeführt werden. Wir glauben etwas zu sehen, was wir zu kennen glauben (OBL´s Stimme und Gesicht) und etwas zu erfahren, das wir längst ahnten oder ahnen sollten (sein Schuldeingeständnis). Selbst ein Schimpanse ist zu solch simpler Abstrahierung fähig, so er nicht am Korsakow-Syndrom leidet. Das Problem des Sehens ist, dass wir nicht verstehen, was wir nicht kennen. Wir können nicht erkennen, was wir nicht wissen, wovon wir uns nicht zuerst ein Bild, dann einen Begriff gemacht haben. Im Falle OBL glauben wir, was die Medien uns suggerieren. Ob es einen wahren oder zehn "Look-alike-Osamas" gibt, ist weniger von Belang, als die Frage, was bin Laden ist beziehungsweise nicht ist, wenn er nicht gefilmt wird. Ein Teufel in Engelsgestalt, ein agent provocateur oder ein Phantom, das längst in einer parallelen Wirklichkeit wohnt und nur noch zu uns per Video spricht, wie Eurydike zu Orpheus? Je unschärfer das Bild ist, desto authentischer wirkt es in einer Computerwelt, die mit handelsüblichen Programmen jeden Makel von Urlaubsbildern per Mausklick retuschieren kann.Die Möglichkeiten der Geheimdienste gegenüber Hollywoods Trickkiste dürften eher bescheiden sein, doch in diesem Fall erklären sie die zwei Wochen, die Bush uns schmoren ließ, bis er das Ergebnis präsentierte. Was aber, wenn das Video in jeder Hinsicht echt ist, weil die Fälschung in der Sache selbst steckt, nicht in der Verfertigung? Wenn wir das Opfer unserer eigenen Wahrnehmung werden sollen, weil die wirkliche Wahrheit verheerend simpel ist: Bin Laden, der Messias des Glaubens an die Macht des Geldes, längst tot ist, gestorben für die veritablen Öl-Interessen der USA und bestattet im größten Mausoleum der Menschheit - dem Buch der Geschichte?
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