Popsänger seien "Wandervögel des Widerstands", hat sich Peter Weiss einmal aufnotiert. Eine Anerkennung, die doppelt wiegt, ist Weiss der Popkultur doch eher fern gestanden. Aber er hat das Potenzial erahnt, das im Gesang eines Bob Dylan etwa, oder eines Lou Reed und Nick Cave hörbar wird. Pop steht eben nicht bloß für eine ephemere Spaßkultur, Pop ist auch wirklicher Ausdruck von 50 Jahren Kultur- und Sozialgeschichte. Und zudem ein ästhetischer Faktor, auch wenn sich die an E-Standards geschulte (Literatur-)Kritik seit je dagegen wehrt, Pop ernst zu nehmen. "People try to put us down / Talkin´ bout my generation" sangen schon 1965 die Jungs von The Who.
Lieder, Songs und ihr Geist der Revolte begleiten auch Roger Monnerats Sänger durch die Jahr
durch die Jahre. Von Going Home über Are you experienced bis zu Dead End Street haben sie ihm nicht nur den Soundtrack zum Leben geliefert, sondern auch einprägsame Textzeilen, in denen er sich wiedergefunden, aufgehoben, verstanden gefühlt hat. Er singt diese Lieder in sich hinein, wo sie nachhallen. Er singt sie, indem er sie lebt.Roger Monnerat, Journalist bei der Zürcher WochenZeitung, erzählt in seinem dritten Roman die Entwicklungsgeschichte eines jungen Mannes, der 1949 geboren mit den Klängen der "neuen" Musik auf- und in sie hineinwächst. Dylan oder Brassens trösten ihn, der rhythmische Dreiklang "Sex and Drugs and Rock´n´Roll" steht als Leitstern über seinen tastenden Lebensversuchen, er steht für Ausbruch, Traum und Eigensinn. "Die Zeit war seltsam verknotet, es war kalt und ganz gegen seine Art erlaubte der Kapitalismus den Männern damals, nach acht Stunden Arbeit den Kopf auf den warmen Bauch ihrer Frau zu betten und den Kindern Kaugummi in den Mund zu schieben." Monnerat reflektiert die Geschichte des jungen Mannes im politischen Kontext.In der Vorrede, in welcher sich der Erzähler an seine "vieille gamine" richtet, der er den Roman widmet, verspricht er eine Dreiteilung seines Protagonisten. Auf der Reise durch drei "verlorene" Jahrzehnte würde er von Marek (für die Kindheit und Jugend), Mâlek (für die wilden Jahre) und Manek (für ein alternatives Leben) erzählen. Die Erinnerung ist nicht widerspruchsfrei. Gemeinsam zeichnen sie das Bild eines Jungen, der in proletarischen Verhältnissen aufwächst, den Sprung ans Gymnasium schafft und in die Revolte der 68er Jahre hinein gerät.Revolte bedeutet Ausstieg aus der bürgerlichen Karriere, sie bedeutet LSD und subversive Tat. Mâlek findet Unterschlupf in einer konspirativen Gruppe, nebenher verübt er mit einem Freund gewöhnliche Brüche. Allerdings geraten politische und kriminelle Konspiration bald miteinander in Konflikt, er wird zu einem Risiko für die Gruppe. Und weil auch die Versuche zu einem privaten Glück mit Frau und Kind misslingen, scheitert die Revolte. Nicht ein mutwilliges Delikt, sondern ein dummer Zufall bringt Manek in den Knast.Der Sänger gleicht einem langen Lied über die Jahre der Jugend und der Revolte, akkurat in Prosa verfasst, doch songpoetisch strukturiert mit Auslassungen und Verdichtungen.Zwischen die epischen Liedstrophen eingefügt finden sich kurze Improvisationsbreaks, in denen sich der Erzähler selbst bemerkbar macht und mit vier weitern Figuren ein surreales, zuweilen etwas angestrengt rätselhaftes Spiel aufführt. "Hope I die before I get old" lautet eine viel zitierte Zeile aus dem Song My Generation. In diesen Zwischenstücken rechnet der Erzähler seiner "vieille gamine" die Toten vor und reflektiert die Angst vor dem Sterben. Für seine Generation "ist ohne Gott zu sterben ein Kinderspiel. Nur hat uns niemand gezeigt, wie das Spiel geht. Deshalb verwirklichen wir uns selbst."Die entfernte Ähnlichkeit mit der Struktur von Songs offenbart Stärken und Schwächen. Wo sich Monnerat auf atmosphärische Beschreibungen einlässt, entstehen dichte, präzise Bilder einer Epoche, die bis heute präsent geblieben ist in Form von abgewetzten Ikonen und Klischees: John Lennon, Baader-Meinhof, LSD und Kommune. Insbesondere die sozialen Differenzen, die sich innerhalb der Jugendkultur herausbildeten, zeichnet Monnerat sorgsam nach. Etwa zwischen den handfesten Rockern und den theoriefesten Gymnasiasten, die gemeinsam ein Haus besetzt halten.Immer wieder aber neigt Monnerat auch zu nüchternen Aufzählungen und zu Beschreibungen, in denen der politische oder soziale Kontext mit zuweilen fast buchhalterischer Sachlichkeit wieder gegeben wird. So werden die Vorgänge während Maneks Knastzeit quasi im Schnellvorlauf resümiert, mit dem Effekt, dass die erzählten Figuren eher behauptet als von innen heraus entwickelt wirken. Was Mâlek eigentlich in konspirativen Gruppen suchte und welche Stimmung in diesen herrschte, ob sie unter polizeilicher Beobachtung standen und ähnliches mehr wird gar nicht näher beleuchtet.Wo Monnerat den Kontext nicht atmosphärisch ausgestaltet, sondern nur grob raffend überbrückt, entsteht ein lückenhaftes Bild der politischen Revolte Ende der sechziger- und Anfang der siebziger Jahre. Das geschilderte Zeitkolorit und die dreifache Spielfigur finden nicht zu einer Einheit. Dergestalt bleibt auch das Interesse an der Motivation ihres Tuns teilweise unbefriedigt. Inwieweit war es politisch, inwieweit persönlich motiviert?Eine Strophe freilich lindert die Kritik: die letzte, in der Marek / Mâlek / Manek zum Erzähler-Ich zusammen finden. Es ist dies das anrührendste und zugleich luzideste Kapitel in diesem Buch. Das Ich begibt sich mit seinen betagten Eltern auf eine siebentägige Chinareise. Der Vater wünschte sich, "dass einer der beiden Söhne sie begleiten würde". Auf wenigen Seiten glückt Monnerat hier die Verbindung von Anschaulichkeit, biographischer Anekdote und politischem Kontext. Es ist der versöhnliche Abschluss eines nicht restlos geglückten Romans.Roger Monnerat: Der Sänger. Roman. Bilgerverlag, Zürich 2002, 304 S., 25,20 EUR