Tokio

Berliner Abende Kolumne

Es ist etwas im Gange, aber ich weiß noch nicht, was. Ich war heute endlich mal wieder auf dem Wochenmarkt am Lausitzer Platz in Kreuzberg. Seit mindestens vier Monaten bin ich da nicht mehr hingekommen, nachdem ich eine zeitlang regelmäßig mehr oder weniger meinen Wocheneinkauf dort gemacht habe. Dann hatte sich irgendetwas verlagert und plötzlich ging Freitag nicht mehr.

Der Bauer, bei dem ich immer mein Wurzelgemüse kaufte, fragte mich auch prompt, wo ich denn so lange geblieben sei, er habe mich ja ewig nicht gesehen. Ja, sagte ich nur, weil ich es mir auch nicht erklären konnte, noch weniger ihm. Er sagte, er hätte mich schon längst "abgeschrieben". Wie er das meine, wollte ich wissen, aber er wiederholte nur, dass er mich so lange nicht gesehen habe. Es hatte mit Arbeit zu tun, sagte ich, was wohl eher nicht stimmt, aber da das meiste ja irgendwie mit der Arbeit zu tun hat, war es auch keine Lüge. Genau das glaubte er aber offenbar, denn er stieß ein trockenes Lachen heraus: "Das sagen alle."

Ehe mir eine Erwiderung einfiel, setzte der Gemüsehändler nach: "Gib doch zu, dass du in Tokio warst."

Tokio? Ich war noch nie in Tokio, überhaupt noch nie in Asien.

"Tokio?", fragte auch meine Freundin, als ich ihr zu Hause davon erzählte. "Du warst doch nie in Tokio."

"Natürlich war ich nie in Tokio."

"Aber der Gemüseverkäufer kann das ja nicht wissen", meinte sie.

Darauf fiel mir wieder nichts ein.

"Vielleicht hat er ›Torino‹ verstanden."

Wir waren im Frühjahr in Turin, sie und ich.

"Aber was heißt denn ›verstanden‹? Ich habe Karotten verlangt und er sagte, ich sei in Tokio gewesen. Ich hab dem ja gar nichts erzählt von irgendwelchen Reisen."

"Vielleicht jemand anderes", meinte meine Freundin.

"Entschuldige mal, ich rede von dem Bauern, bei dem ich eine zeitlang jede Woche Wurzelgemüse gekauft habe und den ich nie irgendwo anders gesehen, geschweige denn gesprochen habe. Ich war auch seit Monaten nicht auf dem Markt", sagte ich. "Ich weiß auch nicht warum."

"Aber andere waren doch auf dem Markt, oder glaubst du, der Markt hört auf zu existieren, wenn du nicht mehr hingehst?"

Nun wurde meine Freundin auch noch wütend. Was das denn heißen solle, meinte ich und das Übliche, was man sagt, wenn man eigentlich besser nichts sagt, aber Angst hat, im Schweigen zu verlieren.

Das Schweigen kam dann doch. Wir saßen uns gegenüber, die Möhren lagen zwischen uns - mit Kraut. Das hat mir der Bauer früher, als ich regelmäßig kam, immer gleich abgedreht, und zwar vor dem Wiegen. Dann stand meine Freundin auf und verließ die Küche. "Tokio", hörte ich sie sagen und dass ich von ihr aus da ja hinfliegen könne, wenn es mir hier zu eng würde.

Ich habe gehört, dass sich in Tokio immer mehr Menschen wegen der hohen Mieten nur noch Schlafschubladen leisten könnten. Ich schwieg aber und dachte, dass irgendwas passiert ist und dass ich nicht verstehe, was. Vielleicht sollte man seine Einkaufsroutinen nicht zu lange unterbrechen. Es könnte missverstanden werden und nach Spurenverwischen aussehen.

"Man sollte seine Einkaufsroutinen nicht zu lange unterbrechen."

Meine Freundin sagte das von nebenan, und ich rief, das sei doch totaler Quatsch. Wahrscheinlich habe der Bauer sich am Morgen mit seiner Frau gestritten und habe einen Sündenbock gebraucht, sagte ich. "Nur weil ich nicht mehr auf den Markt komme, heißt das doch nicht gleich, dass ich mich nach Tokio abgesetzt habe."

Mir fiel ein, dass ich einmal gelesen hatte, in Tokio gäbe es keine Adressen im bei uns gebräuchlichen Sinne, weil die Straßen dort keine Namen haben. Es hat zwar jeder eine Adresse, aber die kann nur der Postbote entschlüsseln. Wenn man Besuch bekommen will, muss man dem eine Zeichnung anfertigen. Nicht einmal die Taxifahrer finden einen, man muss sie lotsen während der Fahrt. Wahrscheinlich hatte der Bauer Recht, Tokio ist wohl wirklich die ideale Stadt zum Untertauchen. Man braucht es nicht einmal verheimlichen. Man kann allen erzählen, man sei in Tokio und dass sie einen besuchen kommen sollen. Und dann rührt man einfach keinen Finger.

Ich sagte: "Ich geh mal eben Zigaretten holen." Aber ich blieb sitzen. Es sollte ein Witz sein.

"Du bist ja noch da", sagte meine Freundin, als sie wieder in die Küche kam. Das stimmte.


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